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Ich glaube, Raven ist nach Süden geflogen, und ich muss wieder mit mir selber reden.
Noch nie war ich so weit weg von der Welt, noch nie waren Menschen so abwesend, noch nie habe ich in diesem grossen, hallenförmigen Haus eine so gespenstische Stille erlebt wie in den letzten drei Tagen.
Wenn man in irgendeiner Form mal das Wiegenfest von Christus erlebt hat, die Feierlichkeit und Freude, den Frieden,
den Christus unter die Menschen brachte, dann muss ich mir hier vorkommen wie in einer Art Apokalypse.
Ich muss wiederholen: ich erlebe das so, und habe nicht Teil an einer lebendigen Welt, einer sozialen Gemeinschaft,
für mich fühlt es sich so an, als wären die Menschen in diesem Haus alle ausgeflogen, aber ich glaube nicht, dass sie
fliegen mit Flügeln, ich denke mit ausgeflogen eher: aus sich selbst …..

Wer beherbergt die Kranken über einen Zeitraum hinweg, der ursprünglich als Fest gedacht war, als Fest der Liebe,
die durch Jesus zu den Menschen kann. Aber dann, irgendwann, hiess es: es ist einfach nur noch das Fest der Nächstenliebe.
Aber dann, in einem weiteren Schritt, so hab ich das aufgefasst, hiess es überhaupt nichts mehr. Ja, ich glaube, das ist das Zeichen dieser Zeit; dass wir nicht mehr wagen, Menschen zu sein. Wenn hier jemand glücklich ist, als Mensch, dann würde ich diesen Menschen so gerne sehen und mir verraten lassen, wie er dazu gekommen ist?

Nur noch wer die Liebe, die sinnliche Liebesliebe hat, die Liebe, die ihn liebt und begehrt, ihn braucht und seine Gedanken und Gefühle teilt, die Lust; nur diese Menschen sind in dieser Zeit noch vom Abgrund gerettet?
Waren sie es nicht immer? In jeder Krise …? Vielleicht sogar in einer Katastrophe, die ihre beiden Leben gewaltsam beendete,
und sie wussten dies. Aber weil sie dies wussten, war ihre Liebe und ihr Glück nur umso intensiver und kostbarer?!

Ich weiss nicht, wohin Raven abgezogen ist, aber ich muss versuchen, ihm hinterherzupfeifen, er darf nicht erst im März zurückkommen, denn, was wird dann sein? Ich werde keinen Freund, keine Freundin haben, keine Arbeit und keinen Plan mehr, denn ich werde meinen „Glaubenssatz“ geschrieben haben. Und um etwas Neues schreiben zu können, braucht es dann ein neues Leben. Oder aber dieses hier, muss ich mir dann nehmen.

Wie oft werden mir die Minuten zu Stunden, behaftet mit Blei, Stunden, in denen ich nichts anderes mehr mache, als auf den Pöstler zuwarten, in der Hoffnung, dass er etwas Schmuck bringt.

Durch meine Erkrankung habe ich so viel Freizeit gehabt. Zwar konnte ich sie nur bedingt nutzen, aber als Zeit war sie mir auferlegt, machte mich erst frei, aber dann nahm sie mich mehr und mehr gefangen. Und heute erdrückt sie mich.

Ich habe für den ME/CFS-Verein eine grössere Arbeit übersetzt, dies war wohl das erstemal seit Jahrzehnten, wo ich irgendjemandem von Nutzen sein konnte. Ich weiss nicht, ob sie mir weitere Arbeiten haben, die ich vom Bett aus machen kann.

Ich denke, ich habe mein Leben in mein Buch gesteckt, und das allein könnte ein Grund sein, dieses Buch mit Ignoration abzustrafen. Ich glaube, dass der Argwohn vor dem Echten sehr gross geworden ist in dieser Kultur. In Zeiten, in denen niemand mehr dem Andern traut. Das Echte wird für Fake gehalten und verwechselt, das Leere lässt sich füllen mit Projektion, die sich selber leer ist. Da ich nach wie vor alle meine drei Battles verloren habe (Kunst, Love, Health), glaube ich, zu spüren, wie eine Sauerkeit meine Hülle ganz allmählich verunstaltet. Bitterkeit, so tief, wie ich sie empfinde, kann nicht hübsch aussehen fürs Auge. Kein Wunder, kriege ich keinen Mann mehr!

Die ME macht, dass ich seit vielen Jahren bei den geringsten Haushaltsarbeiten ächze und stöhne, wie in den letzten Lebensjahren meine Grossmutter. Aber weil ich mich so daran gewöhnt habe, dass ich tausend Gewichte auf mir trage, physisch, Platten und Bleihaufen meine Muskeln niederdrücken, merke ich nicht mehr, wie mühselig eigentlich das Leben mit Myalgischer Encephalomyelitis ist. Es ist ja nicht mehr der Rede wert. Auch mich hat die Scham, Mensch zu sein, heimgesucht, ungeachten dieses‘ sinnlosen Opfers. Ich weiss nicht, aber manchmal glaube ich, ich fühle mich schuldig. Dies ist komisch, denn im Prinzip glaube ich ja nicht, dass es Schuld gibt, ja, ich glaube folglich auch nicht an Sühne ….

Klipp und klar glaube ich, dass der Mensch Fehler macht, sich seinen Fehlern bewusst werden muss, zum Beispiel, in dem andere (die andere Fehler haben, aber auch Fehler), ihn über seine Fehler aufklären.

Aber dann gibt es da ein Gefühl, das ich nicht verstehe in mir …. das Gefühl, dass es einfach nur ein Irrtum ist, Mensch zu sein.
Vermutlich fühlen alle so, die niemandem ihre Liebe schenken können oder eine Liebe nicht nehmen können, wenn auch (nur) von den Angehörigen. Ich auf alle Fälle weiss mir diese Schuld nicht anders zu erklären, da ich, jetzt, wo ich endgültig nicht mehr durch mich selbst, meinen Egoismus leben kann, durch jemanden anderen leben müsste.

In den letzten Monaten habe ich einige Inserate erstellt, in denen ich Menschen um die unterschiedlichsten Dienstleistungen ersuche, gegen Geld. Aber es stellte sich heraus, dass so gut, wie niemand reagierte. Ich vermute, dass man heute keine „freien Inserate“ mehr machen kann sowenig wie man einem Menschen, der frei ist, trauen kann ….

Die Freiheit, wie wir sie kennengelernt haben und praktizieren ist ja —- bigoscht – nicht vertrauenswürdig, und somit hat auch das Echte keinen Erkennungs- und Anerkennungswert mehr. Zuerst bringen uns die Krippen, dann die Schulen, dann die Arbeitsstellen hoch, immer sind wir gedeckt durch Institutionen. Ich werde mich in einigen Punkten an Hilfsinstutionen wenden müssen, die, in der Regel auf Senioren und alte Menschen ausgerichtet sind. Es ist immer noch nicht die Realität, dass Menschen Mitte Dreissig schwer erkranken, aber mehr als zehn Jahre später immer noch leben, obschon sie doch mehrheitlich im Bett leben.

In letzter Zeit, so etwa seit acht Monaten hat meine Psyche meinen Körper an Grösse wieder eingeholt. Und mein Leiden ist jetzt wieder das der Seele nach dem Leben! Weil die Psyche wieder gross geworden ist, achte ich mich des Körpers weniger und gehe zu oft ausser Haus ….

und fürchte mich nicht vor den Konsequenzen des körperlichen Schmerzes. Er scheint ja nur gemacht zu sein, meinen Hunger nach Leben wieder und wieder und wieder zu nivellieren, zu töten in seinem innersten Kern—- denn im phyischen Schmerz, in der Agonie der neuroimmunen Krämpfe, löst sich auch die Psyche wieder in Asche auf, oder: zumindest in Rauch …. ich meine: das ist das alte Dilemma: man kann nicht in der einen Stunde leben, in der nächsten sterben, auf Dauer kann man das nicht. Und doch ja, kann man auch all das, was man nicht kann, wie es auch all das gibt, was es nicht gibt.

Es ist möglich, zu sterben, und dabei von zwanzig Jahren Leben genau einen Monat physisch aktiv gewesen zu sein. Ich habe gelesen von einer ME-Betroffenen, die ihre aktive Zeit auf 365Tage mit einer Woche angegeben hat ….

Und nun, Frage: wie kann uns soll die Erwartungshaltung einer ME-Betroffenen sein, an sich, an die Menschen, an diese eine Woche …. die sie vor dem Abgrund trennt?! Während die andern alle 365 Tage besitzen …..

Darf ich sagen, dass diese ME-Betroffene von ihren Ansprüchen gequält werden muss, weil das Leben von solcher Kostbarkeit ist, dass man es gar nicht mehr geniessen kann? Im Gegensatz dazu haben die, die funktionstüchtig sind womöglich ein Leben lang Zeit für Versäumnisse, Fehler, Rumtollereien …. sie können vergeuden. Oder: könnten: wäre da nicht ihr Erwerb. Aber oft ist ja auch der eine blosses Versäumnis. Ein Versäumnis, das sich von der freien Zeit abgrenzen lässt. Der Erwerbler kann beides, je nachdem, geniessen, weil der Erwerb die Freizeit schön und leicht erscheinen lässt, und in der Freizeit der Erwerb als sinnstiftend erlebt werden kann. So ist es doch oder?

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