Als ich heute heimfuhr habe ich darüber nachgedacht, was wir miteinander geredet haben. Ich glaube, du hast mich nicht verstanden. Auf jeden Fall hatte ich mitten im Reden den Eindruck, dass du mich nicht verstehst. Und im gleichen Moment hatte ich eine Art Déja-Vu, denn ich muss gedacht haben, das habe ich schon erlebt.
Wann, habe ich dann gedacht, als ich heimfuhr, habe ich je das Gefühl gehabt, verstanden zu werden? Je. Nicht nur von dir. Du bist ja ein spezieller Fall, weil genau du derjenige warst, der immer versuchte, mich zu verstehen. Und vielleicht war das Gefühl, nicht verstanden zu werden, wenn ich mich gerade von dir missverstanden fühlte, am heftigsten.
‚Ich verstehe nicht.‘ Ich weiss nicht, ob es einen Satz gibt, den ich öfters gesagt habe, insgesamt, wenn ich an Sätze denke, die man so spricht, in seinem Leben, wenn man auf dieses (Leben) zurückschaut. ‚Ich kann nicht verstehen.‘ Habe ich gesagt, sehr früh schon, in so vielen alltäglichen Situationen, in den normalen Interaktionen, einfache Dinge wie die Verkehrsregeln habe ich nicht verstanden. Und jetzt weiss ich ja, dass dieses Nichtverstehenkönnen nichts mit meinem Willen zu tun gehabt hat, ebensowenig mit einer Auflehnung resp Psyche (BPS), sondern mit der Neurodivergenz, für die man das Wort Autismus benutzt. Aber mehr ist damit nämlich auch nicht gesagt. Oder wie soll ich das verstehen? Die Sache ist doch die, dass man sich weder unter dem Wort Gehirn noch unter dem Wort Psyche irgendetwas vorstellen kann, dass es beides eigentlich Begriffe sind ohne Stoff und Lokalisation. Und auf Worte von solcher Abstraktheit ist man angewiesen, um etwas über einen Menschen zu erfahren?
Das Verbotsschild ist ein runder Kreis, aussen rot, innen Blau, das von einem schrägen Streifen geteilt wird. Als ich ein Kind war, habe ich versucht, mir das Bild einzuprägen. Man hat mir gesagt, was es bedeutet. Ich habe gesagt; ich verstehe. Aber beim nächsten mal habe ich es wieder vergessen gehabt.
Ich habe mir das Bild eingeprägt, das war nicht das Problem, das Signet habe ich gesehen, vor dem inneren Auge, aber so bald ich damit konfrontiert wurde, in der Situation, habe ich seinen Zweck nicht verstanden. Man hat es mir wieder erklärt, ich habe gesagt, ich verstehe. So ging es lange. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass ich besser sage: ich verstehe nicht. Und ich habe nur noch diesen Satz gesagt. Sogar, wenn ich verstanden habe, sagte ich: „Ich kann nicht verstehen.“ Und ich fügte vielleicht noch hinzu, eine weitere Stufe: „Verstehst du? Ich kann nicht verstehen. Verstehst du?“,
Du musst verstehen, dass ich nicht verstehen kann, was ich nicht fasse. Und dass ich so viele Jahre nicht verstand, dass ich nicht verstehen kann, was ich nicht fasse. Jetzt aber, viel zu spät, verstehe ich, dass ich nicht verstehen kann. Aber es ist mir unerklärlich, wie ich aus einem einzigen abstrakten Wort (Autismus) mein Verständnis gewinne für diese folgenschwere meine Sache, ein Wort, das doch nur eine weitere Abstraktheit über die andere schichtet.
Aut_(Selbst) ismos (Ort). Gibt es denn einen Ort, der weniger dem Selbst gehört, als das Selbst?
Du bist vielleicht auch ein wenig neurodivergent, habe ich gesagt. Aber eher nur in privaten Dingen. Ja, im Unterschied zu mir bist du dort am Ort immer ein Selbst gewesen, wo ich kein Selbst sein kann, dort, wo all diese Beurteilungen ihre unverbrüchlichen Sinn/Logik hernehmen; du hast die Systeme durchlaufen– das Schulsystem, das Berufssystem, das Sprachsystem, das Rechensystem, das Rechtssystem— weil du verstanden hast. Aber immer noch sagst du, dass du all das hergeben möchtest, um frei und unbehelligt in den Tag leben zu können. Ja, aber dann tue es doch, sage ich, zum hundertsten mal seit Jahren. Wenn es das ist, was du willst. Und dich die Zwänge, die Normen, die Erwartungen, die Monotonie des Erwerbsapparats auspressen und zerquetschen. Aber auch da, du immer derselbe, niemals könntest du aussteigen aus dem System, lieber noch lässt du all das über dich ergehen, bis dein Körper, das einzige Fassbare, zerbrochen ist. Ich verstehe dich nicht. Und ich verstehe dich. Es gibt ja eben keine Alternative. Entweder man versteht. Oder man versteht nicht.
Ich habe so viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, wegen meiner Entwicklungsstörung— wieder ein Wort— wieder sagt es nichts!—- dass ich das Doppelte oder Dreifache gebraucht hätte an Zeit— und dann noch zusammen mit der ME—- ich habe ja nichts, rein gar nichts praktisch in der Welt gelernt, sondern alles nur in mir selbst. Ich habe meine eigene Sozialisation durchlebt, lange, in mir, quasi. Und dann eine zweite starten müssen, die ausserhalb– die erste habe ich durch meine blosse Imagination bewerkstelligt (oder eben nicht)—- ich habe nichts abgeguckt, ich habe nichts nachgeahmt, ich habe sogar die Sprache, die doch ein Menü ist oder zumindest eine Reproduktion, auf jeder Zunge neu, entdeckt, so, als hätte ich sie selber von neu auf lernen müssen, nicht, als wäre sie mir gelehrt worden—
mein krudes Ich habe ich zusammengewürfelt und nicht verstanden, warum es so schwierig ist, sich eine Identität zu verpassen, ohne abzugucken, zu imitieren. Also habe ich dann irgendwann auch angefangen, ein klein wenig, abzugucken, später. Denn auf einmal ist mir alles komisch vorgekommen. So, als wäre ich anders, nicht normal. Dies, obschon ich doch viel mehr ich war, als alle andern. Aber die Andern, sie kamen mir auf einmal auf eine so hirnrissig leichtsinnige Art normal, sich selbst vor …. und ich mir fake, verstehst du? So haben wir unsere Rollen vertauscht in meiner Anschauung. Weil ich von diesem Differenzierungswahn erfasst wurde, als ich den normalen Wunsch verspürte, mich zu nähern und ein wenig zu verbinden.
Du hast so viel besser und schneller gelernt. Aber in manchen Dingen bist du völlig begriffsstutzig; dort, wo es nicht um Begriffe geht. Ich stelle dir die Fragen der Zehnjährigen, weil ich nicht verstehe, wie es in einem Andern drin aussieht. Verstehst du also den Ort und dein Selbst in diesem? Oder warum hängst du so an mir, obschon ich nun beiderorts nicht mehr bin?