Eines Tages wacht man auf und erkennt, dass der Vertraute nicht der gewesen ist, den man für diesen hielt. Aber wer war er in Wirklichkeit?
In welcher Wirklichkeit?
E. Carrère sieht im ‘Widersacher’, der ‘wahren’ Geschichte über den Mythomanen Jean Claude-Romand, das Problem einer Kluft zwischen der sozialen Rolle, die man spielt, der Persona und öffentlichen Maske, und dem Ich, das mit sich allein nachts auf dem Klo sitzt.
1993 wurde Jean-Claude Romand zum sechsfachen Mörder. Er hatte seine Frau, seine zwei Kinder und die Eltern, vermutlich auch seinen Schwiegervater getötet. Achtzehn Jahre lang hatte Romand vorgegeben, er sei Arzt und Forscher bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Das Ganze drohte aufzufliegen, als Romand kein Geld mehr hatte. Die Angehörigen und sogar eine Freundin hatten ihm Jahre lang ihr ganzes Vermögen anvertraut, Romand hatte es in Genf unter seinem Namen auf Konten angelegt und davon seinen Lebensstandard in einer Genfer Diplomatengegend finanziert. Romand sagte später auf dem Gericht, die Liebe und Fürsorge für seine Familie sei echt gewesen. (Daraus lässt sich schliessen, dass es zwischen dem privaten Selbst und dem öffentlichen/beruflichen Selbst einen schizoiden Spalt gibt.) Faszinierend ist: Von vielen Ereignissen konnte Jean-Claude Romand im Nachhinein nicht mehr sagen, ob sie wahr waren oder er sie erfunden hatte. Hatte er sich zum Beispiel die Verletzung an der Hand kurz vor der ersten Semesterprüfung selbst zugefügt oder war er tatsächlich gestürzt? Dann hätte ein dummer kleiner Zufall die Schwelle zwischen wahr und fiktiv im Leben Romands zugunsten einer fatalen Lüge verschoben. the fact is, Jean-Claude Romand liess sich nach der ersten geschwänzten Semesterprüfung jede weitere Semesterprüfung krank schreiben und konnte doch glaubhaft machen, dass er an jeder der Prüfungen da war und diese bestand. Während der Prüfungszeit verschanzte sich Jean-Claude Romand im Elternhaus unter dem Vorwand? von Krankheit. Er schien für Niemanden erreichbar zu sein. Dann tauchte er wieder zum nächsten Semester auf, wo man ihn als hilfsbereiten Student mit guten Leistungen wahr nahm. Ein unauffälliger junger Mann, stets im Hintergrund, Mitläufer, von allen gemocht, nicht begehrt. So bestand er das Medizinexamen, selbst davon überrascht, nicht entdeckt und der Lüge überführt worden zu sein. (hätte er sich das gewünscht?). Romand heiratete in eine wohlhabende Familie und umgab sich mit eine Gruppe von Freunden (Doctors, Akademikern). Seine Bescheidenheit und Verschwiegenheit machte ihn jetzt beliebt. Niemand hatte ihn indes je in seinem Büro bei der WHO gesichtet. Roman hing stundenlang mit seinem Wagen auf Parkplätzen rum, fuhr in die Wälder des Juras oder studierte medizinische Bücher oder Reisebücher in unterschiedlichen Bibliotheken. Geschäftsreisen, die er nie antrat, erforderten ein Studium der Länder, die Arteriosklerose, sein Forschungsgebiet, verlangte Weiterbildung. Auch einen Krebs erfand Roman, zwar in einer chronischen Form. (‘Einen Lymphdrüsenkrebs zu bekennen statt einen Betrug lief für ihn darauf hinaus eine zu spezielle Wirklichkeit in Kategorieren zu überführen, die für andere verständlich waren.’)
Warum hat nicht mal seine Ehefrau etwas gemerkt? Und auch: wo ist der Übergang in die notorische Lüge? Kann man, wie Jean-Claude Romand es später formulierte, wegen einer einzigen dummen Lüge auf einmal chronisch zu lügen beginnen und darin mit der Zeit eine Genugtuung, einen Genuss finden? Ist ein beruflicher Status eine Art Konstitution, die in die Person hineinwuchert, so dass selbst die Nächsten achtzehn Jahre lang nichts ahnen wollen, nicht ergründen, wissen wollen, wer der dahinter ist; entblättert?! Statusblind scheint das Umfeld von Romand gewesen zu sein. Ihre Passivität lässt die Bekannten und Angehörigen bis zu einem gewissen Grad zu einem Teil seiner erdachten Wirklichkeit werden. Indem er am Schluss die Nächsten umbringt, versucht er sich von seiner erfundenen Biografie zu lösen. Den Mut, sich selbst zu töten hat er nicht. Trotzdem fühlt er sich endlich “free”, wie er später dem Gericht sagt. Frei? Von der Figur Jean-Claude Romand?
Gibt es in der biografischen Entwicklung von Jean-Claude Romand einen schwarzen Flarz? Kann man etwas finden im Dunkel des Unterbewusstseins, aus dem sich etwas ableiten lässt? Die Mutter war krank (vermutlich Depression?), der Vater (eine Art Förstermeister), katholisch, in der Gegend eine Autorität und immer um Kontrolle und bedacht. Carrère schreibt über die Romands: ‘Was ein Romand sagte, wurde für bare Münze genommen. Die Romands waren streng. Lügen war nicht erlaubt. Gleichzeitig durfte man nicht alles sagen.’
Das tönt gar nicht gut. Das tönt, als gäbe es weder ein wirkliches Gutes noch ein echtes Böses im Leben der Romands, als wäre das Kind von jeglicher freien Entfaltung abgeschnitten und dafür zugerüstet, sich lahm gelegt verdient zu machen.
No, es lässt sich nichts finden.
Zum Roman. Ich erfahre: ein Tatsachenroman (in diesem Fall True Crime) hält sich an das Passierte, ist faktual. Hingegen ist die Fiktion eine erfundene Wirklichkeit. And? Carrère, der Jean Claude Romand nur ein einziges mal real traf, hat die Geschichte den Fakten entlang nachgeschrieben. Diese Fakten erzählen die Höhepunkte der Ereignisse bis zum Mord und der anschliessenden Verhaftung. Mehr weiss auch Carrère nicht. Amazing, man sieht alles nur wie von Aussen! Interessant hingegen, dass Carrère verschweigt, worin seine eigene Faszination für den Mythomanen und Mörder aus Lüge gründet. That being said, er wusste nicht, wie er sich dem Mörder annähren soll. Ob überhaupt er es darf. Vielleicht war er in diesem Punkt nicht ganz ehrlich zu sich selbst? Von dem von dem Moment an, als der Fall Romand in den Zeitungen publik wurde, war Carrère davon besessen, darüber einen Roman zu schreiben. Sieben Jahre lang konnte er es nicht. Und erst, als er das Projekt begrub, klappte es. So konnte sich Romand, dem pathologischer Narzissmus attestiert wurde, darüber freuen, dass die Figur Romand, über die grausame Wahrheit, die bereits durch die Medien mehr wie eine Soap schien, durch eine neue Fiktion ergänzt wurde, in dem ein weiterer Mensch, sich in der Vorstellung mit Romands Tat befasste. Roma
Die Gratwanderung zwischen Fiktion und Wahrheit in einem Roman läuft irgendwie ähnlich wie der Lebensfaden. Rückwirkend kann man zum Schluss kommen, ein Leben sei eine Angelegenheit von Zufall, richtigen oder falschen Zeitpunkten, Ort der Geburt, Elternstatus usw., Wahl u. also äusseren Umständen. Als hätte es sich geradesogut anders ereignen können; die eigene Biografie, I mean.
Leider bin ich auch ein (kleiner) Hochstapler. I do not think so, dass ich damit jemandem weh mache. But I think, ich lebte auch eine Art Zweiheit aus Heimlichkeit und Realem. Heimlich lebte ich einen heimlichen Traum. Meine heimlich erdachte Wirklichkeit sollte mich der Wahrheit näher bringen. Lebendigsein wollte ich unter allen Umständen, aber sobald ich einen Fuss vor die Tür setzte, war da diese Umwelt. Sie umfing mich oft wie eine Erstarrung. Also muss ich physisch erstarrt sein. So kehrte ich in die erdachte Wirklichkeit zurück und baute mir darin ein Nest, weil ich mich da lebendig fühlte- —–
und bin nicht mehr daheim im Erdachten!!!!!!! Habe keine Wahl. Ohne Sinn und Idee, so fühle ich mich gegenüber dem Wort “Authentizität”.
Eines Tages wacht man auf und erkennt, dass man der Fremde ist, der sich selbst der Nächste zu sein hat. Und wenn man das nicht mag; was tut man dann?
(aus einem Interview mit E. Carrère )