Jugendtexte: 1999/2002_ Briefe an den Psy

Jeanne Stürmchen, Steckweg 3 3014 Bern

                                                                                                    24. 9. 1999

Sehr geehrter Herr Doktor,

 Sicher denken Sie jetzt: Au, nein! Jetzt stiehlt sie mir auch privat noch die Zeit, diese Saubande! Zeit haben Sie nicht.  Sie ist Ihnen immer zu knapp. So ist Ihr Blick sogar während der Sitzung die meiste Zeit in den Terminkalender gekrallt. Hoffen Sie, dass wenigstens ein Patient für den nächsten Tag, die kommende Woche noch abpringt? Ich bin dieser Patient, Herr Doktor, seien Sie beruhigt, ich kann nächste Woche nicht kommen! Ich suche nämlich gerade nach einer abhanden gekommenen Liebeserklärung für mein Leben, nachdem mir Ihr Seelenritter PSYCHOPHARMAKA letzte Nacht das Kotzen brachte. Und ich doppelt sah. Ein, weiss nicht was für ein seelisches Monsterkonzentrat feuerte mir gegen dieses winzig kleine, chemische Pillchen an, in der Gurgel fühlte ich einen Schlauch, zehnmal verdreht und verknotet… Nein, ich kann dieses Pillchen mit dem besten Willen nicht schlucken! Kann nicht zu den dreieinhalb Millionen gehören, die, wie Sie sagen, dieses Pillchen täglich, fast wie zum Vergnügen, einnehmen. Das alles in allem enttäuscht mich nun schon sehr, ich muss es zugeben. Nicht zuletzt, da ich es toll gefunden hätte, einmal einer Familie anzugehören … einer Gattung oder Spezie aus der Familie … der … wie hiess es doch gleich … sagen wir: Psychopharmakaschmauser! Dunkelwolkenschlucker! Geradeausweitergeher! Sozusagen! Naja, werde ich nun ein Leben lang unglücklich bleiben?

Ich hoffe mal nicht! Und verbleibe

Mit freundlichen Grüssen, Jeanne Stürmchen

Bern, den 22.10.99

Sehr geehrter Herr Doktor,

Leider kann ich Ihnen den gewünschten Lebenslauf noch nicht senden, da ich ihn erst schreiben muss! Respektive ich fürchte, ich kann meinen Lebenslauf noch nicht schreiben, da ich erst mein Leben leben muss! Bevor ich überhaupt so was wie einen Lauf im Leben habe! Mit dem Schreiben, zu dem Sie mich angehalten haben, neben den Arbeitsmassnahmen, geht es übrigens bergab. Ich muss sagen, ich möchte gern auf ein Ohr stossen. Aber da gibt es etwas, das ich niemals schaffen werde: den Ton, mit dem ich zur Welt gekommen bin, auf einen Markt, sagen wir sogar, einen Literaturmarkt, zuzuschneiden. Wissen Sie, auf eine Weise wäre ich gerne Sie! Dann würde ich wie ein grosses, leeres Buch, all die Gedanken und Offenbarungen Ihrer Patienten, ihre grossartigen Vermurkstheiten – ich meine, das sind Sie doch, solche inneren Ergüsse, die Ihnen wildfremde Menschen anvertrauen? – zu einem einzigen, möglichst endlosen Erzählstrang zusammenweben. Dann würde ich die Geschichte, die sich aus dem Erzählstrang ergibt, Ihnen bringen, und Sie könnten dann mittels Ihrer langjährigen Berufsausbildung, unter anderem am Psychologic Institut in Amerika, eine Persönlichkeitsstruktur filtern. Einen Menschen  aus dem Flickteppich inklusive einer Diagnose!

Hiesse die Krankheit dieses Flickteppich-Menschen Sehnsucht? Hiesse sie Unsicherheit? Hiesse sie Zaudern, Verhindertsein, Stürmischsein? Leben?

Leider weiss ich mit knapp Zweiundwanzig immer noch keinen Beruf, der mir kleidungsmässig passen könnte. Zu schade nur, dass nicht ICH ein Kleidungsstück bin! Habe ich heute im Warenhaus Globus gedacht, als ich bei den Strümpfen stand. Ich drehte mich übrigens gerade vor einem bespiegelten Regal ab, weil ich glaubte, ich hätte Sie, Herr Doktor, einige Meter hinter mir, ebenfalls vor den (männlichen) Strümpfen entdeckt.

Das Problem mit den Strümpfen ist bei mir, dass ich bei der grossen linken Zehe immer nach Ablauf des dritten Tages ein grosses Loch kriege. Das Problem mit den Socken jedoch, dass ich davon zwar rechte und linke besitze, aber ganz viele, viele … verstreute … verlorene … Warum eigentlich, Herr Doktor, ist es so schwierig eine rechte Socke zu finden, die zu einer linken Socke passt, was meinen Sie? Wollen wir diesem Problem einmal nachgehen? Ich meine, jetzt nicht im Warenhaus, nicht im teueren Globus! Sondern bei Ihnen, bequem, in der Praxis.

Freundliche Grüsse, Jeanne Stürmchen

 

4.3.2000, Bern

 Sehr geehrter Herr Doktor,

 Mein briefliches Thema: Wie, glauben Sie, soll ich es lieben, das in mir fühlt, wenn die Welt es nicht liebt? Ich bin gerade verdammt zornig, weil mir die Welt in allem, was ich mir für sie ausmale an Gestalt, Mode, Verführungskraft und Schönheit, Witz, Drama, Schmerz, Genuss etc., einfach nicht gehorcht! Sie will vor die Hunde gehen in reiner Funktionalität, na bitte! Aber mich hungert! Nach einem ganz, ganz ernsten Vergnügen!

Ach ja, noch was anderes: Irgendwie weiss ich immer noch nicht, was für eine Erwerbsarbeit ich ausüben könnte. Sie haben mich neulich aufgefordert, darüber nachzudenken, ob ich den Job im Ryffliyhof, Coop City, Warenhaus, nicht annehmen will. Jedoch, ich bin zum Schluss gekommen: ich bin zu lebhaft, zu sperrig um am Fliessband, sprich; an der Kasse zu stehen! Selbstverständlich weiss ich, dass etwas anderes als der Detailhandel oder allenfalls eine Frisörlehre im zweiten Bildungsgang meinem schulischen Niveau nicht entspricht. Aber wissen Sie: ich habe geradezu panische angst als Kassiererin an einer Kasse in einem grossen Warenhaus mein Leben zu verlieren! Ich will dort nur hin, um schöne Kleidchen zu shoppen, die ich mir dann anziehe in einem Augenblick, in dem mein Leben zählt!  Und ich etwas von mir bieten kann, darf und muss!

Wowowowow! Was bin ich für ein oberflächliches Gänschen! Herr Doktor! Wenn ich in einem Warenhaus aber an der Kasse sitze und Beträge eintippe und sage Guten Tag und auf Wiedersehen acht Stunden lang am Tag, so fühle ich fast jede Stunde durchwegs in mir tief Innen eine unsagbare Angst! Der Tod, der durch meinen fragilen Körper ja doch fast immer hindurch spricht, lauert mir dann mit aller Macht, unter extremen Beschwerden auf! Ich könnte den jämmerlichen Lebensschatz meines Lebens, den ich in dieser Zeit nicht suchen kann, weil die Erwerbsarbeit mich daran hindert, verlieren! Für immer!

Die Erwerbsarbeit fordert all meine physische und nervliche Kraft, ich aber kann nicht sein, ohne so etwas wie den jämmerlichen Schatz meines Lebens zu jagen, zu suchen, zu umzingeln!

Herr Doktor, wenn ich genug physische Kraft hätte würde ich acht Stunden am Tag an der Kasse sitzen und für meine Suche nach dem Leben, das ich vielleicht niemals finde, den  Lohn kassieren. Und dann würde ich die weiteren acht Stunden ein bisschen rumhüpfen, ein wenig küssen, und noch acht Stunden gratis Einkassieren obendrauf! Und all das würde sehr viel Sinn machen in der Kraft!

Sie sagen, es sei jetzt, mit Zweiundzwanzig langsam an der Zeit für mich, erwachsen zu werden. Ja, gut, ich bin spät dran, da haben Sie recht. Aber ich möchte meine freien Weideplätzchen nicht aufgeben, nur um auf einer Ebene mit den „Grossen“ zu funktionieren. Ich hätte das ungute Gefühl, ich täte das nur um ihnen zu gefallen! Dabei würden sie doch nur applaudieren, weil ich wie sie funktioniere, was, auch wenn ich mich noch so anstrengen würde, niemals der Fall wäre. Ich aber möchte ihnen auf eine ganz andere Art gefallen. Wissen Sie wie ich es meine, Herr Doktor?

Mit freundlichen Grüssen J. Stürmchen

11.3.2000

Guten Tag Herr Doktor,

Gerne erinnere ich Sie daran, dass wir am 8. 3. einen Termin gehabt hätten. Dieses Datum war vorgestern! Leider konnte ich diesen Termin nicht wahrnehmen. Obwohl Sie immer sagen, dass Sie mich auf meinem Lebensweg, wie er sich vor mir entrollt, unterstützen, haben Sie letztesmal an mir Kritik geübt. Scharfe! Dass ich immer noch keinen Job und keine klaren Berufsaussichten habe respektive konkrete Vorstellungen, wie ich mein Leben zukünftig erwerbe. Das war der Kritikpunkt! So sagten Sie mir, wenn auch nicht direkt, aber ganz sicher durch die BLUME, dass es besser ist, wenn ich die Zeit, die ich damit verbringe, Ihnen in kurligen Briefen meine Launen zu beschreiben, in Bewerbungen investiere. „Ansonsten verlieren wir hier unsere Zeit!“, sagten Sie. Und ich stellte fest, wie Sie einen zerstreuten, fast enteigneten Blick auf Ihre dicke, wasserfeste Armbanduhr warfen. ANSONSTEN VERLIEREN WIR HIER UNSERE ZEIT. HERR DOKTOR! Erstensmal: WO verlieren wir unsere Zeit?! Und zweitens: Sie wissen doch haargenau, dass ich keine Zeit zu verlieren habe, sondern nur das Leben! Also bitte ich Sie höflichst, nicht von „Wir“ zu sprechen, wenn Sie von sich selbst sprechen, was ich schwer vermute, wenn Sie sagen: „… Ansonsten verlieren wir unsere Zeit!“ Und mit einem so zerstreuten, fast ängstlichen Blick auf Ihre abgedichtete Unterwasseruhr schauen, dass man meinen könnte, Ihre ganze Souveränität und Professionalität, mit der Sie mich provozieren, herauskitzeln, verärgern, aggressiv machen, im gutmütterlichen Versuch, mich durch Therapie am Seil hinab zu lassen …. gegen Geld, sei Ihnen plötzlich abhanden gekommen. Herr Doktor, Was haben Sie zu verlieren?

 Sehr geehrter Herr Doktor, 

Probleme stehen an. Ich will Sie daher wieder „ehren“. Ich stehe also mit grösstmöglich aufgesperrtem Maul im Badezimmer und richte die Taschenlampe auf meine vereiterten Mandeln. Seit einem Monat versuche ich vergeblich den leuchtenden Fliegenpilz mit dem schönen Frauennamen „Angina“ mittels  einer Antibiose aus der Sprühdose, Schabern und Stengeln meiner Lieblingsglacé Pralinato Frisco zu vertreiben! Wären Sie bereit, Herr Doktor, mir ein Krankenzeugnis, das mir Hausarzt Schlappbach liebenswürdigerweise bereits für zwei Wochen ausgestellt hat, „bis auf Weiteres“ zu verlängern? Ich weiss, die Frage kommt in einem blöden Moment, wo ich doch erst vor einer Woche den einjährigen Zusatzkurs zur Arztsekretärin an der Feusischule begonnen habe. Ich meine, ich, Sie, meine nahe Verwandtschaft, die ganze Umgebung ist glücklich über diese geniale praktische Wendung, dass ich meine, vor vier Jahren absolvierte Ausbildung zur fixfertigen Sekretärin nun doch noch verbinden kann mit einer faszinierenden Materie! (Terminologie statt Buchhaltung! Verbandskunde statt Zahlen!) Im Prinzip ist ja auch alles gut gegangen bis und mit Vorstellungsrunde, als sich zweiundzwanzig, teilweise etwas ältere, beleibtere, oft méchierte Mädchen, der Reihe nach vorstellten: „Ich heisse Soundso. Bin dort und dort geboren. Habe so und so viele Kinder. Habe da und dort gearbeitet …“, sagte, zum Beispiel, die erste Sekretärin, ehe sie den Ball an die zweite Sekretärin weitergab, die direkt neben ihr sass. Diese sagte: „Ich heisse Soundso. Komme von dort und dort. Bin das und das … „, usw. , Dann hat auch diese Sekretärin den Ball weiter gegeben an die nächste Sekretärin in der Reihe. (denn so sassen wir, in Reihen!) „Ich bin … ich komme … ich war … ich werde!“, sagte diese Sekretärin. Aber so souverän, so reibungslos in Klang und Ton, wie am Schnürchen, so dass ich heimlich kaltblütig vor Verbewunderung dachte: ‚Die ist bereits eine Gestandene in ihrem Fach, durch und durch!’ Also hatten sich zwanzig … einundzwanzig Sekretärinnen durch und durch, brilliante Telefonistinnenstimmen, Automatensprecherinnen, mit Namen, Wohnort, Zivilstatus, Alter, ehemaligen Arbeitsplätzen, Scheidungen usw. vorgestellt … mit allem, was dazugehört zur perfekten Vorstellung! … fast wie im Chor! … als die Reihe plötzlich an mir war.  Und ich  unerhört … Schiss bekam! Das Fieber stieg mir in den Kopf, der glühende Hals schmerzte mich. Ich angelte nach einem Satz, einem Vorstellungssatz, schabte daran, verlor ihn, grübelte an meinem gesprenkelten Rachen und der Frage, wie lange das wohl noch dauern würde, herum. Ich vergass auch das, als jemand aus der Ferne rief: „Wie heissen Sie?“ Und von noch weiter weg eine Stimme fremd und nuschelnd sagte: „Angina!“

 

25.10.2000

Sehr geehrter Herr Doktor,

Haben Sie’s schon erfahren? Aus meinem Arztsekretärinnenkurs ist nichts geworden. Schuld daran ist wohl das *Taxpunktesystem und nicht meine krankheitsbedingte Abwesenheit. Nun geht es in einem nächsten Schritt darum, meine beruflichen Eignungen als kaufmännische Angestellte neu zu beurteilen und insbesondere meine logischen Fähigkeiten einmal genau unter die Lupe zu nehmen. All das geschieht in einem Beschäftigungsprogramm, das ich am kommenden Dreissigsten beginne. Da dieses Beschäftigungsprogramm unter anderem vom Ihnen eingefädelt worden ist, verstehen Sie sicher, wenn ich unseren Termin vom Neunundzwanzigsten auf unbestimmte Zeit verschiebe.

Auch ganz andere, teilweise gravierendere Beschäftigungen, Gefühle und Gedanken, die mich zurzeit sehr beschäftigen, müssen verschoben, hinten angestellt werden, bis auf Weiteres: A: Dass ich lieben will mit einer Art leidenschaftlicher Intensität. B: Dass ich leben will und nichts und niemand mich einschränken oder und aufhalten soll, in meinem Bestreben mein Leben zu leben, so wie ich es will. C: Dass die Arbeit respektive mein zukünftiger Erwerb dieses Leben jedoch zerfasert und in kleine Stücke zerhackt, indem es mir einen massiven Teil an Energie für fremdbestimmte Zwecke abzweigt, als wäre ich eine Zapfsäule. So dass mir diese Energie und Kraft für das Andere, das WAHRE, nicht mehr frei zur Verfügung steht.

Lohnt sich der Aufwand dieser Kraft? Lohnt er sich nicht? Ist er deckungsgleich? Oder werde ich am Ende, insbesondere, physisch, bezahlen müssen? D: Dass mein Herz, dieser kleine motorisierte Zwerg kontrahiert. E: dilatiert… F: aussetzt. G: Oh Wunder! H: Dass ich unter dem Umstand meiner Sterblichkeit gar nichts mehr machen kann, nein, rein gar nichts! I: Dass mir ein Psychiater bei all diesen Gefühlen und Gedanken, die ich hiermit noch einmal hervorzaubere, aber ab sofort in die Schublade stecke, nicht helfen kann.

So sind die elementarsten Dinge noch nicht geregelt, wenn ich am kommenden Dreissigsten mein Beschäftigungsprogramm anfange, zu fünfzig Prozent, Arbeitstage: Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag – puh! – und  man mit einem passenden Eignungstest hoffentlich herausfindet, ob in mir drin noch irgendwelche Fähigkeiten stecken, die man nutzen kann.

…. KLMNOPQRSTUVWXY … Z… Herr Doktor: Z!

Freundliche Grüsse

Jeanne Stürmchen

* Kosten zur Errechnung des Honorars einer ärztlichen Leistung zusammengestellt aus Taxpunktewerten



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