Mit Vierzig erklärte sie sich der Welt als soweit verschollen.
Äusserlich war sie durchaus nicht gezeichnet von der Krankheit,
die sie zweieinhalb mal so alt machte wie ihr wirkliches Alter.
Und auch sonst lieferte ihr Leben, wie so viele andere Leben auch,
keine Rohstoffe, keinen Pfeffer für ein Drama. Ratlos und substanzlos
brütete sie eine Weile über der Kartografie, die sie als junges Mädchen
für sich entworfen hatte: Mehrere Wege waren darin eingezeichnet.
Auf dem einen, der über eine alte Treppe hinab in schlammigen
Meeresboden fusste, stand geschrieben: „Erschaffe du selbst etwas!“ Auf
dem andern, der eher einer Hänsel-und-Gretel-Spur glich, zickzack, blutrot,
hiess es: „Romantik!“
„Romantik“ und „Erschaffe du dich selbst!“ waren über eine „Hängebrücke“
mit dem Namen „Eins plus zwei gibt drei! Ein paar Jährchen Fruchtbarkeit
zwischen Zwanzig und Dreissig seien dir gegeben!“ miteinander
verbunden.
Selbstverständlich gab es da mit dem „Erwerb“ noch eine weitere glatte,
ziemlich graue, dann wieder holprige Bahn sowie andere, mit
Ausstülpungen verwachsene Pflaster, die sie notgedrungen abgehen
musste. Eine Vorstellung von der Wichtigkeit, die diese graue Bahn für die
anderen Bahnen hatte, und welche Wechselbeziehung zwischen diesen
bestand, hatte sie nicht. Jedoch, über diese versponnene Kartografie war
ein gerafftes Häubchen gespannt! Eine grosse Haube, die all diese – ich
sage nun mal – Konzepte! Haha! – sinngebend zusammenhielt, die aber ein
Loch hatte in ihrem Zelt, durch das die „Ontologie“, dieser spitzige Stein
mahlende Zahn, tröpfelte …! Selbst Gott war diese Sackgasse, die in die
Höhlung eines Gebisses mündete, unangenehm. Brach er sich doch über
einen Blitzableiter vor ihr in Sicherheit, (beyond everything), als sie wie ein
Strom das Haubendach einbrach, als oder besser: noch gerade bevor die
Krankheit sie, (die Frau), wie ein Pfeil traf, direkt in den Herzmuskel, mit
Zwanzig.
Ehe sie aus dem Markt faulte, drei Jahre später und in der Liebe zu einem
Bettelfrosch wurde, mit Dreissig. Ihre Kartografie, wie die rotweissen
Zeichen im Orientierungslauf, nicht mehr entzifferbar war. Da überkam
sie grosses Heimweh nach ihrer Kindheitsbank im Wald.
Verfrühter Abend, ausgekühlt und verzittert. Ein Traktor tuckerte
querfeldein. Durch den bläulichen Dunst des Roséhimmels blinzelte die
Erinnerung an einen rostig gerüschten Wein, den sie einmal mit
Herzensbrecher und Träger knielanger Wollröcke, aus einem Schachpokal
getrunken hatte, gefunden am Strassenrand – Malte Neumann! –
Im Gebüsch raschelte es. Ein Windstoss hob die Blätter –
wie eine Kelle die unter süsse Crème fährt – während es eindunkelte –
sanft an. Und sie weinte ein bisschen über den kniffligen Umstand, dass
es für sie wirklich nichts mehr zu erreichen gab, weil ihr, was man
erreichen kann, durch Leistung oder Gefallen, in dieser Welt, nichts
mehr bedeutete. Weil sie nichts erschaffen hatte, als es noch gezählt hatte,
(„eins und zwei=Drei=logisch, oder?“), das nun den zunehmend
aufgeblähten Platz ihres kranken Körpers einnehmen konnte. Weil das
alles, seit sie sich von der Welt als verschollen erklärt hatte –
oder war es umgekehrt? Musste sie die Welt
für ver … egal! –
egal war.
(2.08 2017 The mature Pain)
Es ist kaum möglich das zu kommentieren. Mit messerscharfer Sprache sezierte Lebensplanung. Und beim Lesen quillt der Kloß im Hals, während ich dein schriftstellerisches Talent anstaune. Gleichzeitig versuche ich, die Spur deines Schmerzes nicht zu verlieren, während sie blasser und blasser wird zum Ende hin.
Ich weiß nicht, ob du kannst. Aber ich hab alle Pläne eingestampft und lebe seither freihand. Jetzt denke ich, dass jeder potenziell viele Leben leben könnte. D.h. die Krankheit hat mich nur einiger Varianten beraubt. Die Auswahl der Wege ist eingeschränkt. Ist einer versperrt, den ich leidenschaftlich gern gehen wollte, setze ich mich an die Gabelung und weine. Und dann putze ich mir die Nase und gehe aufmerksam den anderen. Denn falls Glück darin wohnt, möchte ich es keinesfalls verpassen. Langsamkeit ist in dieser einen Sache von Vorteil. Es ist körperlich unmöglich, an einem Gänseblümchen vorbeizuhasten.
Jetzt hast du auch schon wieder ein Gedicht gemacht…. Liebe.
Danke dir
Wow, prächtig – knuddlig – schön!
Und wie Beckett so in etwa sagt: Failed? – Fail again. Fail better.
Ja