Tränencurriculum (2020)
Gestern Nacht träumte ich, ich sei aus einem Alptraum nicht mehr erwacht. Ich schrie meinen Namen, doch hörte ich meine Stimme nicht. Offenbar befand ich mich in einem Sportstadion und eine beleibte Person mit aufgequollenen Wangen und einer Pudelperücke beugte sich über einen Sessel zu mir herab. „Dann können Sie also beschwören, dass Sie die letzten fünf Jahre bis zu vierundzwanzig Stunden liegend verbracht haben?“ – „Ich schwöre es.“ – „Dann heben Sie bitte den rechten Arm.“ Mein rechter Arm fuhr in die Höhe. Die beleibte Person fragte: „In meinen Unterlagen heisst es, dass Sie im Schnitt Fünfhundertgramm Gewicht pro Arm heben können, Sie aber behaupten, dass Ihnen nach dem Tragen einer Handtasche manchmal über Stunden das Atmen schwerfällt. Ist das so?“ – „Das ist so.“ – „Können Sie das beweisen?“ – „Kollegen!“, intervenierte an dieser Stelle ein Mann, der hinter der Person mit dem Pudelkopf auf der Tribüne sass. „Wir versammeln uns hier, um diesen Leuten die Möglichkeit zu geben, uns von der organischen Ursache ihrer Beschwerden zu überzeugen. Dies ist nicht möglich, wenn neben den Beschwerden nachgewiesene psychiatrische Störungen bestehen, wie das bei der aktuellen Person offensichtlich der Fall ist. Schliessen wir die Frau von der Befragung aus.“ – „Sie wissen genau, dass man durchaus von Flöhen und Läusen befallen sein kann, Kollege“, sagte eine weitere Person selbstsicher. „Ich mache mal ein Beispiel. Sagen wir, an unserem Herrn Richter! Nicht? Das darf ich doch, Kollege? Nehmen wir also an, unser werter Kollege, da…“, die Person zeigte mit dem Finger von der Tribüne aus auf den Menschen mit der Pudelperücke im Sessel, „ …leidet an Bluthochdruck. Zufälligerweise schadet ein hoher Blutdruck unserem Herzkreislaufsystem auf Dauer sehr. Immerhin hat dieses Problem unserem Kollegen, hier, drei Bypässe beschert. Drei Bypässe, die er natürlich alle bravourös und mit bester Gesundheit überlebt hat. Aber glauben Sie im Ernst, dass dieser Blutdruck nicht existiert, sobald man bei unserem Herrn Richter per Zufall auch noch eine zusätzliche Halluzination diagnostiziert? Eine kleine Müdigkeit, die den Durchschnitt des Normalbürgers nach seinen Höchstleistungen gut schlafen lässt, während einige Abweichler in diesem physiologisch natürlichen Körpervorgang unbedingt etwas Krankhaftes sehen wollen?!“ – „Sie haben Recht,“ erwiderte der angesprochene Kollege jetzt, „dass mit dem Ausschluss physisch nachweisbarer Krankheiten die Lügenhaftigkeit unserer Fälle noch nicht bewiesen ist. Umgekehrt können wir aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Vorhandensein einer psychiatrischen Störung das Beschwerdebild, von dem wir hier sprechen, ausschliesst, solange wir nicht wissen, was es verursacht. Sie haben sich doch im Voraus über dieses umstrittene Krankheitsbild informiert, oder etwa nicht? Wenn ja, dann sollten Sie auch die Unterlagen des aktuellen Falles präsent haben. Die Frau verfügt über eine komplexe, jahrzehntelange psychiatrische Vorgeschichte. Darum noch einmal: ich bin für einen Ausschluss…“ An dieser Stelle schalteten sich weitere Personen von der Tribüne zu. Sie diskutierten darüber, ob es vernünftig war, eine Krankheit, die labordiagnostisch nicht nachweisbar war, oder die man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht diagnostizieren konnte oder wollte, als eine Ausschlussdiagnose zu bezeichnen. Das war der Streitpunkt. Eine Ausschlussdiagnose, so sagten sie, kam erst zustande, wenn man sicher sein konnte, alle andern diagnostizierbaren Krankheiten ausgeschlossen zu haben. Es war die Krankheit respektive das Beschwerdebild, die im Prinzip als Letzte übrig blieb, wenn keine diagnostisch sichtbare Krankheit feststellbar war. Da man jedoch nie alle diagnostizierbaren Krankheiten feststellen und somit ausschliessen konnte, gestaltete sich die Suche nach einer diagnostizierbaren Krankheit im Prinzip endlos. Dies wiederum war ein Problem, das die Diskutierenden für unvernünftig, da kostenintensiv betrachteten.
Ich stand der Person mit der Pudelperücke gegenüber und hatte das dringende Bedürfnis, mich an ihrem Pult abzustützen. Ich war durstig und hätte viel für ein Glas Leitungswasser gegeben. So, wie es aussah, war ich zu Fuss hierher ins Stadion gekommen und hatte unterwegs ziemlich geschwitzt. Aus Angst zu spät zum Termin zu erscheinen, hatte sich mein Denken auf dem Weg dahin um den Termin gekrallt, aber mir war nicht klar geworden, worum es dabei eigentlich ging. Jetzt kehrte mein Denken auf einmal zurück, und ich sah wieder klar. Ach so! Ging es mir durch den Kopf. Ich bin hier vor einer Art Gericht, um die Beweise für meine Krankheit gerade selbst zu erbringen! Ich selbst kann dies tun und schaffen, indem ich einfach wahrheitsgemäss sage, wie es ist! Deswegen bin ich hergekommen! Aber wahrscheinlich wird mein Bericht gar nicht nötig sein. Mein Körper wird diese Aufgabe schon von Natur aus für mich übernehmen, auf jeden Fall, wenn dies hier noch lange so geht, und ich hier stehen bleiben muss…
Die Stimmen der Personen, vormals jene des Pudelkopfs rissen mich aus meinen Gedanken. Offenbar war man sich uneinig, ob ich aus der Befragung ausgeschlossen werden sollte oder nicht. Stattdessen entschied man jetzt, zuerst einmal meine physische Kondition zu testen. „Bitte gehen Sie hinunter auf den Sportplatz und absolvieren an der Sprossenwand zehn Klimmzüge“, sagte der Pudelkopf. Eine kleine Gruppe von Personen, einige in weissen Kitteln, löste sich von der Tribüne und bildete um mich einen Halbkreis. Ich drehte mich mit dem Rücken gegen Sprossenwand und stieg mit den Fersen auf die unterste Sprosse. Ziemlich mühselig langte ich mit den Armen hinter meinem Kopf in die Luft und ergriff die oberste Leiste. Aber bereits nach dem ersten Klimmzug spürte ich, wie mich das Gewicht meines Körpers nach unten zog und meine Hände die oberste Sprosse los liessen. Ich sackte auf den Boden und blieb heftig atmend auf dem Rücken liegen. Ein Sportarzt kam mit einem Messband auf mich zu und mass meinen Armumfang. „Das sind stattliche Arme. Sie zeigen keinerlei Anzeichen von Muskelschwund!“, verkündete er. Offenbar verschwand er in einem Geräteraum. Denn im nächsten Moment spürte ich einen heftigen Stoss gegen die Brust. Der Sportarzt hatte mir einen schweren, ledernen Medizinball angeworfen. „Holen Sie mit dem Ball weit hinter dem Kopf aus und klatschen Sie ihn mindestens zehnmal an die Tapete unterhalb der Sprossenwand!“, hiess es diesmal. Aber der Ball schlüpfte mir bereits beim Ausholen aus den Händen, meine Finger waren abgeknickt und nicht kräftig genug, diesen zu halten. „Los! Das können Sie besser!“, rief der Pudelkopf durch ein Megaphon von seinem Sessel aus. „Wer so gut fabulieren kann, kann auch ein paar Bälle an die Wand schmeissen!“ Erneut holte ich hinter meinem Kopf aus und spannte mit aller Kraft die Muskeln meiner Körpermitte an. Obwohl ich den Ball erst wenige Millimeter vom Boden abgehoben hatte, zitterten meine Bauchmuskeln aber derart, dass ich zurück auf den Boden klatschte. Der Ball rollte hinter meinem Kopf davon. „Stellen Sie bitte das Reck und die Kletterstangen auf!“ Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden und wartete, bis der Sportarzt mithilfe einiger Stadionwächter die Geräte aufgestellt hat. In einem zehnminütigen Parcours inklusive Springseil sollte ich unter Beweis stellen, dass ich durchaus physische Ausdauer besass. Ich überlegte gerade, wie ich wieder auf die Beine kommen sollte, da liess mich das Piepsen einer Stoppuhr zusammen zucken. Langsam wie ein Dromedar torkelte ich in die Höhe und stampfte los. Doch schon nach wenigen Metern verringerte ich mein Tempo, bückte mich umständlich nach dem Springseil und verhedderte mich mit dem angehobenen Fuss darin. „Los! Springen Sie! Eins, zwei, drei … !“ Ich warf einen verbissenen Blick in die Richtung des Megaphons. Dann griff ich mit meinen Händen erneut nach den Enden der Springseile, doch diesmal hielt ich sie zu fest umklammert und meine Hände krampften. Ich schüttelte sie heftig, das Springseil glitt zu Boden. „Los! Kindchen! Springen Sie noch zehnmal! Das können Sie doch bestimmt besser!“ Ich warf dem Pudelkopf einen orientierungslosen Blick zu. Dann nickte ich beherzigend und tastete erneut nach dem Springseil. „Eins… zwei… drei… los, weiter! Zählen Sie laut mit mir mit!“ – „Vier… fünf… sechs!“ Ich stolperte, lahmte und spürte, wie sich mein Blick nach Innen kehrte. Ich fühlte, dass ich noch da stand, auf meinen zwei Beinen, ja, sicher, aber die Stimme des Pudelkopfs, die sich jetzt überschlug, tönte von weit her, wie durch eine Blase:
„Und? Sie können Ihre ach so schwachen Muskeln also nicht bewegen? Ihr armes Herzkreislaufsystem ist also dermassen am Anschlag, dass Sie seit bald zehn Jahren nur noch im Bett und auf dem Sofa liegen können, habe ich Recht?!“ Ich wollte etwas erwidern, doch das Problem meiner Kurzatmigkeit erschwerte dies. Schnell legte ich mich flach auf den Rücken und rang nach Luft. Der Sauerstoff schien meine Zielorgane nicht zu erreichen. Weil ich noch heftiger atmete, hyperventilierte ich. Dann wurde mir schwarz.
„Gut. Fangen wir nochmals an! Sie schwören also, dass Sie die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit?“ Ich stand mittlerweile wieder auf dem kleinen Podium dem Richter gegenüber. „Ich schwöre es.“ – „Gut. Dann heben Sie bitte den rechten Arm!“ Ich hob meinen rechten Arm leicht an. „Höher!“, rief der Pudelkopf. „Entschuldigen Sie, aber ich kann den rechten Arm nicht höher heben.“ – „Wie bitte?!“ – „Es ist kaum mehr Kraft mehr drin, seit ich den Medizinball gestemmt habe…“ – „Was soll das heissen?! Würden Sie sich bitte die Mühe machen, den Mund zu öffnen und sich etwas verständlicher äussern?!“ Ein Schwindel erfasste mich. Es fiel mir schwer, den Blick meines Gesprächspartners zu fokussieren. Also fixierte ich den kleinen Bronzehammer, der vor ihm auf dem Pult lag. „Ja, tut mir leid, Herr Richter, der Arm ist schwerer als ein Zementsack… aber ich könnte den rechten Arm vielleicht mit dem linken Arm anheben, darin habe ich noch etwas Kraft. Wäre das ok.?“ Der Pudelkopf schrie auf: „Wollen Sie mich für dumm verkaufen?! Sie stemmen keine zweimal einen Ball in die Luft, und sagen mir dann, Sie können den rechten Arm nicht mehr heben?! Könnten diesen Arm, einen stattlichen Frauenarm, wie uns der Herr Kollege eben sagte, aber anheben, indem Sie den linken Arm zum Hochstemmen des rechten Arms zur Hilfe nehmen?! Meine Herren, haben Sie das gerade gehört?!“ Der Pudelkopf drehte sich in die Richtung der Tribüne, wo ihm relativ viele ausdruckslose und einige belustigte Gesichter entgegenblickten. „Ja natürlich sind wir im Bild“, sagte ein Mann in einem mausgrauen Kittel. „Wir haben hier eine Frau vor uns, die behauptet, dass sie nicht stehen kann. Aber sie steht! Wir haben eine Frau vor uns, die behauptet, sie könne nicht atmen, ihre respiratorischen Muskeln seien dazu zu schwach. Aber sie atmet, wie wir sehen! Eine Frau steht hier vor uns, die innerhalb von dreiundzwanzig Jahren kein halbes Jahr erwerbstätig war und mit knapp Fünfundzwanzig bereits dreihundertundsiebzig Arztpraxen aufgesucht haben soll. Zweitausendunddrei wurde sie teilberentet, doch das hinderte die Betroffene nicht, unsere Krankenkassen weiterhin mit gewaltiger Motivation zu belasten. Täuscht mein Eindruck, oder liess es sich das junge Fräulein damals trotz des subjektiv lautstark beklagten Leidensdruck durchaus erstaunlich gut gehen?“ Jemand nuschelte in seinen Papieren „Der Integrationswille der Person war sich mässig vorhanden, obschon es nicht an Möglichkeiten gefehlt hat. Meines Wissens war Frau Stürmchen in ihren Jugendjahren in ihrem Umkreis als Flaneurin, Brecherin von Männerherzen und Möchtegerndichterin bekannt.“ Die letzten Bemerkungen brachten einige Personen auf der Tribüne zum Gähnen. Erneut meldete sich der Redner, der meinen Ausschluss gefordert hatte. „Ich möchte der Betroffenen an dieser Stelle eine kleine Frage stellen…“ Der Pudelkopf gab sein Einverständnis durch ein unmotiviertes Nicken. „Ich möchte wissen, wie Sie, Frau Stürmchen Johanna-Marie, hierher, an den Ort dieser Befragung gelangt sind? Aus den Angaben, die mir zur Verfügung stehen, geht hervor, dass sich Ihr Domizil an der Hildanusstrasse 88, in Bern West, befindet. Das sind meines Wissens gut zweikommaacht Kilometer vom Befragungsort entfernt…“ Vom langen Stehen fühlte sich meine Haut langsam kalt an. Ich spürte, wie mir das Blut mehr und mehr aus den Muskeln wich, die Bauchmitte wirkte taub. Kurz gesagt: es war schwierig, aufrecht stehen zu bleiben. „Zu Fuss bin ich gekommen… aber mein Name ist nicht Johanna-Marie, und mein Domizil befindet sich, soviel ich weiss, auch nicht mehr an der Hildanusstrasse…“ – „Na, sehen Sie!“ In der Stimme des Redners schwang ein siegesgewisser, fast jubilierender Ton mit. „Aus Ihren eigenen Angaben geht hervor, dass Sie durchaus marschieren können, wenn Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein müssen! Wenn Sie nur müssen respektive wollen! Das deckt sich mit den Angaben, die sich uns durch das Studium Ihrer Unterlagen ergeben… “ – „Ich…“ Erneut überkam mich das Gefühl, zu versacken. Es fühlte sich so an, als wäre mein ganzer Organismus inklusive mein Gehirn damit beschäftigt, die Blutzirkulation aufrechtzuhalten. Ich dachte, dass ich nicht mehr lange auf meinen Beinen stehen konnte, verdrängte die Wahrnehmung des drohenden Kollapses jedoch. In einem jahrelangen Prozess hatte ich nämlich gelernt, alle physischen Warnzeichen, die mich dazu zwangen, mich hinzulegen, bis zum letzten Augenblick zu übergehen. Sogar als Bettlägerige in den letzten drei Jahren hielt ich es immer noch für eine grosse Leistung, wenn ich es schaffte, meine körperlichen Notsignale zu ignorieren. „Es ist wahr, dass ich meinen Beinen in bestimmten Situationen immer noch Muskelkraft abgewinnen kann“, sagte ich mit etwas sichererer Stimme. „Diese Kraft hält beim Gehen manchmal sogar zwischen fünf bis zwanzig Minuten am Stück an. Aber sobald ich länger gehe, fühle ich mich rapide schwächer werden. Und je schwächer ich werde, desto weniger wird mein Gehirn mit den Bewegungen meines Körpers fertig. Tatsächlich fühlt sich ab einem bestimmten Zeitpunkt meiner Entkräftung jede physische Bewegung wie ein Schlag gegen mein Gehirn an! Ich muss mich nun sofort hinlegen. Es fühlt sich so an, als würden alle Bewegungen, auch emotionale und mentale ungefiltert durch mich, meine Haut, meine Nerven, ja, meine Zellen hindurchgehen.“
Auf der Tribüne ertönte vereinzeltes Hüsteln. Ein Mann wandte ein, dass es nicht klug sei, wenn man einem einzelnen Fall so viel Sprechzeit einräume, man habe schliesslich, jeder hier im Raum, noch andere, weit wichtigere Termine.
Ich drehte mich um und warf einen Blick auf den Rasen unter mir. Erst jetzt entdeckte ich die vielen Menschen, die wie tote Fliegen auf dem Stadiongrund herumlagen oder sich langsam auf zwei unterschiedliche Ausgänge zu bewegten. Einer dieser Ausgänge befand sich im rechten unteren Teil des Stadions und war mit der Aufschrift: Exit A/GET gekenntzeichnet. Der andere Ausgang war auf der gegenüberliegenden Seite und hiess: Exit B/Failed. Ich sah eine paar Personen, die, auf dem Weg zu diesem Ausgang, über die Körper mehrer regloser Personen hinweg stiegen. Eine junge Frau mit einem Gesicht, dass so leinenweiss war, als hätte es noch nie Tageslicht gesehen, krampfte. Ihre Gliedmassen waren so mager, wie die eines Kleinkindes.
„Merken Sie nicht, Fall 34000“, holte mich die Stimme des Richters – denn darum handelte es sich beim Pudelkopf ja wohl – in die Realität zurück, „wie Sie sich mit Ihren unlogischen Antworten um die eigene Glaubwürdigkeit bringen?! Ganz offensichtlich sind Sie fähig, weite Strecken auf Ihren Beinen zurückzulegen, schaffen es aber nicht, den rechten Arm auf Verlangen in die Luft zu heben. Wir glauben Ihnen kein Wort! Anbei was ist Ihr korrekter, aktueller Wohnort?“ – „Ich… mir ist nicht gut… ich muss mich kurz setzen…“ Schnell legte ich mich auf den Boden und schloss die Augen. Ein verärgertes Raunen ging durch die Tribüne. „Meine Herren, warum schaffen wir nicht endlich einen Rollstuhl herbei?“, schlug jemand vor. Dieser Vorschlag wurde eine Weile kontrovers diskutiert. Sollten Leute, die so verrückt spielten, dass sie die ganze Zeit umfielen oder liegen mussten, die Gelegenheit haben, bei ihrer Anhörung zu sitzen? Die meisten Personen auf der Tribüne waren entschieden dagegen, einige aber sprachen sich dafür aus, aus Zeitgründen. Offenbar konnten sich die Personen nicht einig werden. Stattdessen rief der Pudelkopf einige weitere Personen durch sein Megaphon auf die Tribüne.
Mit dem Kopf halbwegs unter das Richterpult gerutscht, sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein Mann um die Fünfzig die Treppe hoch stieg. Er trug eine Aktentasche bei sich, aus der er ein mehrfach kopiertes Dossier nahm, überreichte dies dem Richter und seinem Kollegium. „Dreissig Jahre war ich in einer fabelhaften beruflichen Stellung.“ Begann dieser Mann. „Ich war sportlich und habe mich sozial sehr engagiert. Vor knapp einem Jahr bin ich dann am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Ab dann wurde alles anders. Die Grippesymptome sind nicht mehr weggegangen, im Gegenteil, laufend sind neue Beschwerden dazu gekommen. Vor zwei Monaten wurden bei mir durch den Genetikspezialisten Professor Harrer mehrere wichtige Gendefekte und Enzymblockierungen festgestellt. Er sagt, dass sie in meinem Fall die Krankheit vermutlich erklären.“ – „Ah, Anton Harrer, haben wir den hier?“, hörte ich den Pudelkopf von unter der Tischplatte her bewundern rufen. Aus meinem Augenwinkel sah ich, wie sich der Richter von der Person im mausgrauen Kittel einige medizinische Parameter des Vorgestellten erläutern liess. Die meisten Personen auf der Tribüne zeigten daran ein kurzes, flüchtiges Interesse, worauf sie wieder gelangweilt vor sich hin starrten. „Sie können gehen!“, sagte der Pudelkopf mit gedämpft launiger Stimme und wies den Mann mit dem Aktenkoffer auf den Ausgang mit der Aufschrift Exit B/failed. Der Mann bedankte sich erleichtert und überquerte bereits ziemlich leichtfüssig den Rasen, da wurde er auf einmal zurückgerufen. „Halt… Bevor ich es vergesse… wären Sie bereit, für uns noch zehn Klimmzüge an der Sprossenwand zu absolvieren? Es handelt sich nur eine kleine Sicherheitsmassnahme…“ Der Mann kehrte zurück und griff mit den Armen nach der obersten Sprosse. Zwar schaffte er die vorgegebenen zehn Klimmzüge. Seine Geschlechtsgenossen auf der Tribüne schauten während seiner Performance jedoch hartnäckig zur Seite.
„Und Sie glauben also, dass Sie an einer schweren, bisher unbekannten Erschöpfung sowie chronischen Schmerzen leiden, die Sie seit über sieben Jahren mit exzessivem Morphiumkonsum betäuben?“, fragte der Pudelkopf mit säuselnder Stimme eine ausnehmend hübsche junge Frau. Die junge Frau erschien am Arm eines Mannes und konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Ja…“ – „Ja? Was heisst das? Sie glauben es also nur? Dann könnte es durchaus sein, dass diese Schmerzen auch nur bei besonders anstrengenden Arbeiten wie Fensterputzen oder Treppenreinigung auftreten?“ Die junge Frau schwieg konsterniert. „Ihr Mann, Madame, hat uns nämlich darüber informiert, dass Ihr Verhaltensmuster im Bezug auf Ihre Schmerzen wechselt. Oder sagen wir es so, es ist für ihn und uns nicht gänzlich logisch erklärbar. Wenn wir Ihren Akten Glauben schenken wollen“, der Pudelkopf hob an dieser Stelle ein Papierbündel in die Luft, „sind Sie trotz Ihrer Beschwerden fähig, durchaus oft und lange ausgedehnte Telefonate mit Freundinnen zu führen…“ Aus meiner Liegeperspektive sah ich, wie die Beine der jungen Frau heftig zitterten. Sie hing mit ihrem ganzen Körpergewicht an ihrem Partner. Dieser stellte sich jetzt als ihr Ehemann vor, worauf der belustigte Ton in der Stimme des Pudelkopfs verschwand. Alle Personen auf der Tribüne waren sich einig, dass man die Frau so schnell als möglich aus ihrem gewohnten Umfeld wegbringen sollte. Neben einer längerfristigen Graded Exercise Therapy, einer aufbauenden körperlichen Aktivierungstherapie, sollte die junge Frau zudem unbedingt an einer gruppentherapeutischen Sitzung für Schmerzpatienten teilnehmen. Bei den Schmerzen, an denen die Frau litt, so erklärte jemand dem Ehemann in sachlichem Tonfall, handle es sich lediglich um ein übersteigertes Reizempfinden im Bereich der Schmerzrezeptoren im Gehirn. Auch nach sieben Jahren seien diese Beschwerden nicht irreversibel. Die Frau müsse nur einen vernünftigen Umgang damit finden.
„Nicht wahr, Sie hören am besten noch heute auf, Ihre Schmerzen zu katastrophisieren?!“, übersetzte der Pudelkopf die besprochenen Lösungen für die irritierte junge Frau. Mehrmals flüsterte sie ihrem Ehemann etwas ins Ohr. Offenbar war sie in grosser Sorge, dass sie den langen Weg von der Tribüne zum Stadionausgang A/Get nicht schaffen könnte. Der Ehemann schlug diese Sorge verärgert aus, worauf zwischen den Eheleuten ein kurzer Streit entbrannte. Da passierte etwas Unerhörtes, und der Mann liess den Arm der Frau einfach los, lief die Treppenstufen ins Stadion hinab und machte sich aus dem Staub. Sie (die Zurückgelassene) nahm im Schneckentempo eine Treppenstufe um die andere. Bereits weitere fünf Frauen waren vorgetreten und hatten ihre komplizierten Krankengeschichten erzählt, da hatte die junge Frau den Stadiongrund immer noch nicht erreicht.
Von den Frauen, die die Befragungen hinter sich hatten, schickte der Pudelkopf alle an die Sprossenwand, wo sie alle miserabel abschnitten. Da sie auch mit dem Medizinball unglaublich katastrophale Resultate erzielten, hatte der Sportarzt die Idee, die Frauen sollten die Übung mit einem kleinen Tennisball wiederholen. Einige Frauen sorgten mit dieser Übung für ziemliche Lacher. Die meisten schafften es aber auch mit einem kleinen Ball nicht, ihre Oberkörper im Liegen anzuheben, was schon erstaunlich war. Der Pudelkopf trommelte mit seinen Fingern nervös auf die Tischfläche. Ich war mittlerweile soweit unter das Pult gerutscht, dass mein Scheitel die Spitzen seiner Schuhe fast berührte. Tock! Tock! Tock! Als er den Namen der Frau mit dem leinenweissen Gesicht durchs Megaphon schrie, zog sich mein Körper zu einer winzigen schmerzhaften Faust zusammen. Die Frau reagierte nicht, also rief der Pudelkopf sie immer lauter auf. Ich schrie mit, in meinem Schlaf respektive Alptraum, doch konnte ich meine eigene Stimme nicht hören. Zwar wusste ich jetzt, wo ich hier war, und worum es bei diesem Verhör ging. Meine eigene Stimme repetierte seit einiger Zeit jedoch ununterbrochen die Frage: „Wo ist jetzt eigentlich ihr aktueller Wohnort? Wo ist jetzt eigentlich ihr aktueller…?“ Es fiel mir einfach nicht ein, so sehr ich mich auch bemühte, mich zu erinnern. Alles, was ich wusste, war, wie ich über den Platz eines Tramdepots am Ende einer Stadt hierher gekommen war. Dass mich der Weg dahin unglaublich viel Kraft gekostet und ich ihn geschafft hatte. Aber wo ich wohnte und wie lebte, davon wusste ich nichts. Wer weiss, vielleicht hatte ich ja überhaupt kein Dach über dem Kopf, vielleicht besass ich nicht mal ein Leben?!
„Fallnummer 34000! Können wir weitermachen? Ich hoffe, Sie wenigstens verschonen uns jetzt mit den umständlichen Nebenerscheinungen dieses hysterischen Theaters. Können Sie bitte aufstehen und vor mich treten? Bitte schwören Sie für mich doch noch einmal die Wahrheit Ihrer Aussagen, indem Sie den rechten Arm weit und sichtbar in die Höhe heben.“ Ich hob den rechten Arm kurz in die Luft. „Länger! Und höher, bitte!“, rief der Pudelkopf. „Ich kann den rechten Arm nicht höher und vor allem nicht länger heben!“ – „Warum nicht?“ – „Ich habe es Ihnen schon gesagt, es ist keine Kraft drin…“ Der Pudelkopf pfiff durch die Zähne. „Ach ja, Sie sind ja so kraftlos und können Ihren Arm aus mangelnder Kraft nicht heben! Wie konnte ich das vergessen! Dann schwören Sie, dass Sie den rechten Arm nicht heben können, seit dreiundzwanzig Jahren nicht, nicht, weil Sie ihn nicht heben wollen, um zu schwören, weil sie im Grunde die Unwahrheit erzählen, sondern weil die Energiezufuhr zu diesem Arm tatsächlich unterdrückt ist?“ – „Wie bitte?“ Ich spürte, wie meine Augen unkoordiniert flatterten. „Ach so, ja, ich schwöre das. Wobei ich sagen muss, dass ich den rechten Arm erst seit ungefähr zwei Jahren nach einer Belastung nicht mehr heben kann. In den einundzwanzig Jahren zuvor…“, ich schluckte mühevoll, „… war meine Muskelschwäche noch nicht ausgeprägt, und ich konnte den Arm noch heben, mehrheitlich, sofern ich die betroffenen Muskelgruppen nicht zu stark betätigte, versteht sich. Aber in den letzten zwei, drei Jahren hat sich die Schwäche dann verschlechtert. Sobald ich einen schweren Gegenstand heben oder eine Einkaufstasche tragen musste, konnte ich den Arm danach zuerst für Stunden nur noch kurz, später für Wochen nur noch kurz und schliesslich fast immer nur noch kurz heben. Ich konnte aber nicht einfach aufhören, meinen Oberkörper zu betätigen, ich musste ja meinen Haushalt verrichten, mich anziehen, pflegen, Sie verstehen… So habe ich dann immer weniger Kraft im rechten Arm und den dazugehörigen Brustmuskeln verspürt, weil ich nicht lange genug warten konnte, bis sich die Muskeln spürbar regeneriert hatten. Es fühlte sich an, als würde sich der Verlust an Kraft ganz langsam summieren, nicht immer unmittelbar nach der Belastung, aber immer irgendwann wenige Stunden nachher. Schliesslich machte ich eines Tages den Fehler, einen Rucksack mit vielen Unterlagen zu meinem Neu…“ – „Kommen Sie zur Sache!“ – „Nein, ich hebe den rechten Arm nicht nicht, weil ich nicht schwören will, da ich im Grunde die Unwahrheit erzähle und dadurch nicht schwören kann, dass ich nicht die Wahrheit erzähle, denn was hätte ich davon, wenn ich nicht die Wahrheit erzählte?! Was würde es mir bringen, nachdem ich dreiundzwanzig Jahre lang mit dieser Krankheit gelebt habe und es nicht geschafft habe, so zu tun, als würde es diese Krankheit in mir nicht geben?! Ich wünschte mir, ich wüsste nicht dass sie existiert…“ Der Richter lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte mich belustigt von Kopf bis Fuss. „Nichts einfacher als das, meine Liebe! So wie ich das bisher beurteilen kann, gibt es keine Beweise, dass diese Krankheit existiert. Und vom Gegenteil haben uns auch meine Gehilfen …“ , er warf eine Grimasse Richtung Tribüne, „ …die ja immerhin alles Ärzte sind, nicht überzeugt. Also, warum tun sie nicht einfach wieder so, als existierte diese Krankheit nicht, hä? Wären da nicht alle Probleme mit einem Schlag gelöst?“
Erneut spürte ich, wie eine Ohnmacht über mich kam. Schnell legte ich mich flach auf den Boden und schloss die Augen. „Stadionwächter! Leibwächter! Wo bleibt der Rollstuhl!? Und was mich betrifft; so hätte ich gerne endlich mal was Ordentliches zu trinken!“ Ein paar Minuten waren vergangen. Zwei Männer hatten einen Rollstuhl herein gefahren, ihn akkurat neben mir abgestellt und waren dann wieder verschwunden. Jemand erschien mit einer Flasche Wein und füllte das Wasserglas des Richters mit Bordeaux auf.
„Gut, danke für diese prompte Intervention. Machen wir also weiter. 34000, mein Problemfall! Jetzt, wo Sie so weich und bequem sitzen: Sie haben doch nicht gerade das Bewusstsein verloren?“ – „Ich fürchte, ich war kurz weg doch… und doch danke ich Ihnen für die Sitzgelegenheit, danke… “, sagte ich leise. „Dann ist das also wahr?“ – „Was?“ – „Heben Sie für mich doch bitte einmal den Arm in die Höhe!“ Mein rechter Arm ging in die Luft. In dem Moment, in dem er zu Zittern anfing, nahm ich den linken Arm zur Hilfe, indem ich den rechten Arm mit dem linken stützte. Der Pudelkopf lief rot an. „Nein, halten Sie den rechten Arm in die Höhe ohne mit dem linken Arm nachzuhelfen!“ – „Das kann ich kaum. Glauben Sie mir!“ – „Ihnen glauben? Das fehlte gerade noch! In Ihren Akten heisst es…“ Der Pudelkopf leerte sein Weinglas und wühlte in seinen Akten. „In Ihren Akten heisst es, dass Sie seit zwanzig Jahren fast jeden Tag unter einer Übelkeit, Würgen und Erbrechen leiden. Sie behaupten, dass diese Beschwerden einem Vergiftungsgefühl von mindestens, man höre, fünf Whiskeygläsern auf puren Magen gleichkommen! Hahaha!“ – „Eindrückliche blumige Dramatik, ich muss schon sagen!“, rief ein Mann von der Tribüne herab. „Könnte ein Hypochonder nicht besser und malerischer beschreiben!“ Auf der Tribüne beklagten sich ein paar Personen in theatralischem Ton über ihr Los, sich mit lauem Mineralwasser begnügen zu müssen, da habe es der Richter doch gleich viel besser. Der Pudelkopf ging nicht auf den Zynismus der Ärzte ein. Stattdessen warf er einen Blick auf die Uhr. „Also, Frau Stürmchen, haben Sie auf ihrem schönen Spaziergang durchs Leben jemals fünf Glas Whiskey getrunken, ja oder nein?“ Gekicher. „Ach so, ja. Das heisst nein. Das heisst, ja.“ Trotz meiner sitzenden Position konnte ich mich immer weniger konzentrieren. Mir war jetzt richtig schlecht. „Nicht jeden Tag in all den Jahren meiner Symptome habe ich unter dieser Übelkeit und diesem Katergefühl gelitten. Aber in den letzten drei Jahren erwachte ich jeden Tag mit diesem fiebrigen Katergefühl … es ging nie mehr weg, bis spät abends…“ – „Dann ist diese Übelkeit kein Trick, den Sie anwenden, um den gewöhnlichen Herausforderungen des Lebens, die Ihnen ganz offensichtlich nichts bedeuten, wenn ich Ihre Akte durchlese, zu umgehen?“ – „Diese Übelkeit ist kein Trick, den ich anwende, um den gewöhnlichen H…h…r …s…f…r…d…un…g .. des Lebens, die mir ni…t…s b…b…b…aus…zu w w…w…w… ich glaube, ich muss kotzen!“ – „Dieses ewige Kollabieren verleidet mir langsam! Würden die Ärzte bitte dafür sorgen, dass diese Anhörungen etwas reibungsloser über die Bühne gehen?! Ich darf doch wohl hoffen, dass wir deren genug im Raum haben!? Wie wäre es übrigens mit einem amphetaminhaltigen Mittel?“ Jemand antwortete leicht entschuldigend: „Eine Anhörung im Sitzen ist bei ausgeprägten schweren Fällen mit diesen Beschwerden leider problematisch. Die Menschen mit diesem, ich will es mal so formulieren: Krankheitssyndrom scheinen die aufgerichtete Position schlecht zu tolerieren, was wir auch bei dieser Patientin in Form von Synkopen sehen. Im Prinzip rate ich zu einer Anhörung in horizontaler Position…“ – „Sie meinen, Sie wollen, dass wir diese Leute da alle im Bett verhören?!“ Die Stimme des Pudelkopfs verlor sich in einem hysterischen Kreischen. „Es kann nicht Sinn und Zweck sein, den Bedürfnissen dieser Menschen beim kleinsten Pieps nachzugeben …“, warf nun eine weitere Männerstimme in die Runde. „Gerade bei einer Patientengruppe, die für ihre mangelnde Disziplin und Kooperationsbereitschaft unter den Ärzten seit langem bekannt ist…“ Auf der Tribüne wurde nun darüber diskutiert, inwieweit die kategorisch ablehnende Haltung eines Patienten gegenüber physischem Training seinen Heilungsprozess behindere. So meinte der Mann, der ein Nachgeben beim kleinsten Pieps, für ungünstig hielt, dass ein Kranker seinen Zustand aktiv verbessern könne ganz egal, an was für einer Krankheit er leide. Wichtig sei lediglich, dass er motiviert sei und daran glaube. Dies sei ein allgemeiner Grundsatz. Unvernünftig sei es, wenn dieser Grundsatz ausgerechnet für eine Patientengruppe nicht gelten solle, die für sich allein in Anspruch nehme, körperliche Aktivität verschlimmere ihre Beschwerden oder führe sogar zu beweisbaren irreversiblem Schäden. Der andere Arzt, der das Problem der Synkopen „bei Menschen mit diesem Krankheitssyndrom“ angesprochen hatte, pflichtete bei. Bei der Entstehung und Chronifizierung von Krankheit sei die Einstellung sicher entscheidend. Allerdings habe man es eben trotzdem mit Menschen zu tun, bei denen die Selbstheilungsprozesse versagten, sonst bräuchte es ja keinen Arzt, und es gäbe keine physischen Krankheiten usw.
„Tschuldige, ich kann meinen Kopf mit den Halsmuskeln nicht länger tragen. Würde mich gerne wieder auf den Boden legen…“ Erstaunlich rasch wurde mir nach dieser Bemerkung eine Zervikalorthese appliziert. Ich sagte noch, dass ich kaum Berührung am Hals vertrage und schon gar keine Orthese. Doch der Pudelkopf hatte seinen unterwürfigen Krankenpfleger schon mit der Beschaffung der Orthese vertraut gemacht.
„Gut. Machen wir weiter. Fallnummer 34000! Einer meiner Problemfälle! Wir geben nicht auf, was?“ Mein Nacken wuden durch eine verlängerte Kunststofforthese gestützt. Ich konnte meinen Kopf nicht mehr nach rechts oder links bewegen. Auch war mir vom Krankenpfleger eine Spritze in die rechte Armvene gegeben worden. „Hier in meinen Akten steht, dass Sie an Lymphknotenschmerzen, kappenartigem Kopfdruck, ständigem leichten Fieber leiden, Ihre Pupillen im Spiegel nicht mehr fokussieren können, zwitschernde Vögel bei Ihnen Myoklonien auslösen und unzählige weiterer solcher haarsträubender Geschichten. Die ganze Symptomatik wird für Sie von einer nobel ausgedrückten Fatigue, begleitet, die sich für Sie anfühlt, als hätten Sie seit Jahren nicht mehr geschlafen. Stimmt das?“ – „Dies stimmt, ja.“ – „Dann täuschen Sie diese Symptome nicht vor, weil es sich dabei im Grunde um eine frei flottierende, aber tief sitzende Angst handelt, die Sie seit Ihrer Kindheit plagt“, der Pudelkopf zeigte mit dem Finger auf meine Akte, die unter ihm lag, „die Sie jedoch aus gutem Grund vor sich und den Augen der Welt verstecken, weil Sie nicht hinter ihren psychischen Problemen stehen und glauben, Sie könnten durch das Vorgeben physischer Symptome, in den Augen Ihres Umfelds besser dastehen? Ich gebe Ihn übrigens den Tipp, einmal mit einem Militärdienstler zu sprechen, um zu erfahren, was Schlafentzug bedeutet…“ – „Ich täusche nicht vor, dass ich diese Symptome in ihrer Vielzahl habe, mittlerweile, ja. Ich habe nicht gesagt, dass ich unter… “ – „Mittlerweile?“ Der Pudelkopf intervenierte. „Heisst das, dass es einmal eine Zeit gab, in der Sie diese Symptome erlebten, weil Sie vor etwas grosse Angst hatten?“ – „Hm. Ich denke nicht.“ – „Bitte beantworten Sie meine Frage!“ – „Richter“, sagte ich mit fester Stimme, „diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Ich denke, dass es sich bei diesen Symptomen um biochemische Fehlreaktionen meines Immunsystems, meiner Muskeln, meines Gehirns, meines endokrinologischen Systems, meines ganzen Stoffwechsels, sogar, handelt. All diese Symptome sind miteinander verlinkt und verkettet, das denke ich, da bin ich mir sogar sicher! Aber wo sie entspringen, das weiss ich nicht. Nein, ich denke nicht, dass ich diese Symptome vortäusche, um eine tiefgreifende Angst zu verstecken, weil ich finde, dass ich damit in den Augen der Welt besser dastehe, als wenn diese Symptome, wie Sie sagen, psychisch wären…“ Meine Schnappatmung begann wieder. „Und doch habe ich am Anfang, als ich zum ersten Mal diese Symptome erlebte, und diese Symptome auf mehreren Ebenen gleichzeitig ausbrachen, eine unbeschreiblich starke Angst erlebt. Stellen Sie sich vor, Sie richten sich auf und bemerken, wie ihr Herz dabei rast, Ihnen die Sicht verschwimmt, ihre Kraft auf eine geheimnisvolle Weise aus Ihrem Körper verschwindet, wie sie bei allem, was Sie tun an die Grenze eines physischen Kollapses geraten. Ihr Körper ist nur noch mit dem Feststellen und Verarbeiten von körperlicher Bedrohung beschäftigt. Sie sind so schwach, dass Sie nicht mehr wissen, wie Sie sich schützen können vor weiterer Schwächung. Sie sind im Zustand kompletter physischer Hilflosigkeit… Ist es da verwunderlich, wenn Sie genau in dem Zustand richtig fest Angst kriegen? Meine Angst trat damals so übereinstimmend, so früh und so lange gleichzeitig mit den Symptomen auf, dass es mir heute, nach so vielen Jahren, nicht mehr möglich ist, diese Angst, die mir sozusagen einverleibt wurde durch die Symptome vor dreiundzwanzig Jahren, von den Symptomen selbst in jedem Moment wirklich genau abzutrennen. Ich habe kein Umfeld, Herr Richter. Ergo muss ich nirgendwo gut da stehen.“ – „Dann machen Ihnen Ihre körperlichen Symptome in diesem Moment also Angst? Habe ich Recht? Kindchen, wovor fürchten Sie sich?“ Der Pudelkopf veränderte seine Tonlage. „Ich bin vierundvierzig Jahre alt. Entschuldigen Sie mich, ich muss mich übergeben! Mir dreht sich alles!“ Ich spürte ein feines Zittern, und wie sich mein Blick nach Innen kehrte. „Bitte beantworten Sie meine Frage und kotzen später…! Ich habe Ihre Akte gelesen!“ Mein Gegenüber schrie auf einmal wieder. „Es heisst, dass Sie nicht gelernt haben, angemessen auf Erwartungen zu reagieren! Es heisst, dass Sie, statt mit einer psychisch normalen Reaktion, mit Herzrasen oder Arrhythmien auf Herausforderungen reagieren, weil Sie mit dem kleinsten Wettbewerbsdruck nicht klar kommen! Das alles, weil sie psychisch nicht gesund sind! Zeigen Sie Grösse, und beschwören Sie dies?!“ – „Ich kann beschwören, dass ich mit Druck, den ich seit jeher als physisch erlebe, nicht umgehen kann, bei meinem Leibe… kann ich das beschwören!“, wimmerte ich. „Und doch kann ich leider nicht später kotzen, da es mir genau jetzt, in diesem Augenblick himmelelend übel ist! Sie machen sich keine Vorstellung, wie übel und elend mir ist! Sie alle! Ich könnte die ganze Welt ankotzen und überkotzen, so übel ist mir! Ich wünsche mir wirklich, dass Sie mir die steife Halskrause wieder abnehmen, damit ich meinen Kopf zum Würgen… wenigstens… in die Armbeuge … “ – „Mein Gott, diese armseligen Ärzte heutzutage! Was haben Sie der Person denn eigentlich gespritzt? Sehen Sie nicht, dass diese Frau bis auf Rumvegetieren und theatralischen Mist erzählen offensichtlich nichts auf die Beine bringt?! Geben Sie der Frau ein Beruhigungsmedikament!“ – „Sie haben mich dazu angewiesen, der Patientin ein amphetaminhaltiges Medikament zu verabreichen. Dies hat bei der Patientin offenbar zu einer sofortigen Überstimulation geführt, eine Reaktion, die ich so noch nie…“ Der Krankenpfleger verstummte. „Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe! Und verteidigen Sie sich später!“
– „Wenn ich an dieser Stelle meinen Senf dazu geben könnte…“ Ein kleiner Mann mit einem breiten, vampirartigen Grinsen trat aus der Sitzbank hervor. „Ich weiss, unter Ihnen sind viele Fachmänner und Internisten… und ich bin nur ein einfacher Seelenklempner, ja, das bin ich! Trotzdem bin ich nicht auf den Kopf gefallen…“ Der Mann lachte und steckte sich die Hände in die Hosentaschen. Er trug eine schwarze Lederhose sowie einen wilden Bart, der ihm ein recht unkonventionelles Aussehen verlieh. „Was meinen Sie damit?“, fragte der Pudelkopf ziemlich unmotiviert. „Naja“, meinte der Shrink cool, „So wie es verstehe, wird in vielen Fällen, die wir hier mehr schlecht als recht beurteilen, versucht, eine physische Ursache gegenüber einer psychischen Ursache auszuspielen. Ich glaube aber, dass wir mit der Dualität von Körper und Geist einen grossen Fehler gemacht haben, und dass uns der liebe Herr Descartes damit eine grosse Knacknuss hinterlassen hat!“ Einige Personen auf der Tribüne gähnten. „Wie gesagt, ich bin nur diplomierter Psychiater und als Psychiater seit dreissig Jahren spezialisiert auf junge, widerspenstige, unzugängliche Frauen…“ Der Kobold lachte über alle Backen. „Jaja, das gibt es, liebe Kollegen. Sie glauben vielleicht, wir kennen nur den männlichen Typus der Asozialität, aber es gibt diese Störung auch bei Frauen. Als Psychiater habe ich den Fall 34000, wie Sie meine ehemalige Patientin, da vorne nennen, über mehrere Jahre begleitet… dieses denkende Ding da, res cogitans, hat das vulnerable Seelenleben dieser traurigen Frau, auf die sie hier unnötigerweise noch mit Füssen eintreten, verwüstet. Seit sie denken kann, fühlt sich diese Frau von ihrem körperlichen Dasein, der Materie als solches, res extensa, abgetrennt. Ich habe das Dilemma bereits in einem hoch logischen rationalen, emotional abwesenden Vater und einer emotional schwächelnden, depressiven Mutter erkannt. So hielt ich den anfänglich infantilen Drang meiner Patientin, sich selbst künstlerisch zu verwirklichen für einen Selbstheilungsversuch und liess sie in ihrer andauernden Vogelfreiheit vermeintlich frisch und fröhlich dahinleben! Ähnlich einem Tier, dem man eine Schonfrist erlaubt, bevor man es doch noch erlegt… zum Wohle der Gesellschaft… manche Leute haben es wie Käse: sie brauchen ein bisschen länger zum Reifen! “ Mehrere Weisskittel standen auf und verliessen die Tribüne. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte der Pudelkopf. „Dass ich der Patientin die Chance gab, ihre Anpassungsfunktionen doch noch in Gang zu setzen und die innere Abwehrhaltung gegenüber einem normalen angepassten Leben und der Ausübung einer regulären Arbeit aufzugeben… beispielweise…“ – „Und warum gelang das nicht?“ – „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht war das tiefe Misstrauen, das die Frau gegenüber ihrer Stofflichkeit hegte, zu gross, und es konnte einfach kein sicheres Selbst mehr entstehen! Sie versuchen hier die direkten Affektkorrelate bei meiner Patientin herauszufiltern, aber wenn Sie gut zugehört haben, hat die Patientin bereits gestanden, dass es diese bei ihr seit langem nicht mehr gibt…“ – „Was soll das heissen? Bitte verschonen Sie uns mit ausführlichem Psychojargon…“ Der kleine Kobold zeigte grinsend eine Reihe gelber Zähne. Wieselflink trat er aus seiner Bank hervor und stellte sich hinter die Sessellehne des Pudelkopfs. „Das erklär ich dir gerne! Angenommen, ich behaupte, Du hast da eine hässliche ekelhafte Spinne im Nacken deiner oppulenten Perücke… “ Der Psychiater klaubte eine kleine Gummispinne aus seiner Hosentasche und liess sie an einem Beinchen in den Nacken des Pudelkopfs hinab baumeln. „Eine Spinne?!“ – „Haha! Siehst du, Kollege!“ Der Pudelkopf langte sich mit der Hand in seine Perücke, während der Psychiater die Plastikspinne zurück in seine Hosentasche stopfte. „Du hast da keine Spinne! Trotzdem kräuselt und beisst es dich dahinten im Nacken so komisch! Aus irgendeinem Grund und unter besonderen Umständen können Menschen die Ungeheuer in Ihrem Hinterkopf nicht vergessen! Die Personen, die hier antraben, um ihre physischen Symptome zu beweisen, was ich persönlich für ein erfolgloses Unterfangen halte, besitzen alle die spezifische Veranlagung, dass sie unlösbare Konflikte vom Unterbewusstsein abziehen und an den Körper delegieren. Frage an euch, Kollegen: Sind wir als Gesellschaft an dieser Tendenz wirklich so unschuldig?“ Wieder standen mehrere Personen auf und verliessen die Tribüne durch einen Hinterausgang. „Führen wir die Disziplinen von Körper und Geist näher zusammen; räumen wir dem Denken weniger Macht und dem Gefühl und der Intuition mehr Kraft ein. Ich bin überzeugt, dass solche Beschwerden, wie Sie in der Regel bei Frauen gehäuft auftreten und für die man früher den guten alten Begriff Hysterie anwendete, wieder zurückgehen, wenn wir wieder ganzheitlicher leben und nach unserem Gefühl gehen…“ – „Sind sie fertig mit dem psychologischen Geschwurbel?!“ Die Tribüne hatte sich nun um die Hälfte der Anwesenden dezimiert. „Ich kann dir, Rambo, in einigen Punkten nur zustimmen. In anderen jedoch nicht.“ Dieser Einwand kam von einem älteren, schlohweissen Mann, der den Psychiater offensichtlich gut kannte. „Wie du weißt, betrachte ich das Ganze aus meiner Sicht als Hausarzt etwas pragmatischer.“ – „Und? Halten Sie Ihre Sicht für präsentabel?“ Der Pudelkopf zeigte mit dem Finger auf sein leeres Glas. Wieder erschien die Person mit der Weinflasche und schenkte ihm nach. „Wie gesagt, ich bin nur Allgemeinpraktiker“, sagte der ältere Mann mit der sanften Stimme weiter. „Und als Allgemeinpraktiker kann ich auch nur meine Sicht der Dinge wiedergeben.“ – „Die wäre?“ – „Seit mehreren Jahren stelle ich fest, dass heute viele Patienten eine übersteigerte Vorstellung von Gesundheit haben. Sie kommen in meine Praxis und erwähnen medizinische Fachbegriffe und Beschwerden, die ich nicht einmal kenne. Jeder von Ihnen kann sich heute mithilfe des Netzes selbst Diagnosen zulegen respektive einen ganzen Strauss an Symptomen sammeln, von denen Sie und ich noch nichts gehört haben. Dabei handelt es sich wie üblich nur um ein Geschäft, das von schlauen und dubiosen Verkäufern einschlägiger Medizin getrieben wird, leider gerade mit solchen Leuten, die sich von ihren irrealen Ansprüchen und grossen Erwartungen an ihre Gesundheit ins Boxhorn treiben lassen. Sie glauben an die Fitness ihres Körpers und halten ihn hoch wie die letzte verbliebene göttliche Bastion. Die Folge davon ist es, dass viele Menschen ihren Körper rund um die Uhr auf die kleinsten Anzeichen harmloser Veränderungen abchecken. Der Körper muss unter allen Umständen optimiert werden, und wer zu den Fitten gehört, der wird mit gesellschaftlichen Bonussen belohnt. Ein solches System schafft aber auch viele Kranke, mehr als das, es ist ein System, das aus gesunden Patienten erst Kranke macht. Wenn ich merke, dass es sich bei einem meiner Patienten um einen Cyberchonder handelt, versuche ich seine Sorgen zu zerstreuen und rate ihm, mit dem Googlen von Beschwerden aufzuhören. Bei Frau Stürmchen ist mir das leider nicht gelungen. Kaum hatte ich sie von der übermässigen Sorge um ein Symptom befreit, schlug die Cyberchondrie schon wieder zu und sorgte bei ihr für ein weiteres und wieder neues Beschwerdebild. Es war für mich traurig anzusehen, wie diese freundliche, lebensfrohe Patientin immer öfters mit abstrusen medizinischen Forderungen auf mich zukam, wie sie mit wissenschaftlichen Begriffen und Zusammenhängen, die sie in einschlägigen Foren zusammengetragen hatte, Druck auf mich ausübte. Frau Stürmchen litt an harmlosen vegetativen Störungen, doch leider leitete sie aus ihren Symptomen eine Krankheit ab und aus der Krankheit ein Sektierertum. Nach jahrelangem Suchen hatte sie ihre vermisste Krankheit schliesslich gefunden, gerade so, als handelte es sich dabei um eine persönliche Auszeichnung oder schlimmer: einen Teil ihrer Identität! Wie aber, und damit gebe ich den Ball jetzt eigentlich wieder an dich zurück, lieber Rambo, soll jemand seine Beschwerden loswerden, wenn er von ihnen lebt und sie Teil seiner Identifikation geworden sind?“ Der gelockte gutmütig wirkende Mann machte eine Pause, fuhr dann mit melancholischer, aber bestimmter Stimme fort: „Wer mich kennt, weiss, dass ich mit radikalem Fanatismus nichts anfangen kann, gleich auf welchem Gebiet er sich abspielt. Dieses neue Auftreten meiner Patientin stand dem religiösen Fanatismus jedoch in nichts nach. So sollte ich für diese Krankheit Partei ergreifen und all die medizinischen Unterlagen und englischen Fachberichte studieren, die die Patientin dazu mappenweise in meine Praxis schleppte. Es kam mir vor, als hätte ich nur zwei Möglichkeiten: entweder ich legte ein Glaubensbekenntnis ab für diese Krankheit und gab zu, dass mit der systematischen Ignoranz dieser Krankheit einer ganze Patientengruppe global seit Jahrzehnten ein fürchterliches Unrecht geschieht. Oder aber ich sollte mit dem Feind, womit der Rest der medizinischen Welt gemeint ist, zur Hölle fahren…“ Jemand unterbrach, es schien sich dabei um eine anwesende Person in Zivil zu handeln. „Ihre Einstellung als Arzt kann ich zu Hundertprozent nachvollziehen, Herr Doktor. Was Ihre Äusserungen bezüglich der Existenz dieser Krankheit betrifft, möchte ich aber von Ihnen wissen: bejahen Sie diese in irgendeiner Form? Sie reden darüber so, als verfügten Sie über ein Insiderwissen, das mir – ich bin ebenfalls Hausarzt, pensionierter, allerdings – völlig abgeht. Gibt es diese Krankheit Ihrer Meinung nach tatsächlich, oder ist sie, wie Sie so schön sagen eine Cyberchondrie, eine Modeerscheinung und also sozusagen ein Label unter dem sich unzählige Wehwehchen unserer Zeit subsumieren?“ Der Allgemeinpraktiker räusperte sich in seiner diskreten Art. „Ob es diese Krankheit gibt oder nicht; dazu möchte ich lieber nichts sagen. Aber schauen Sie: was hätte es gebracht, wenn ich der Patientin Zugeständnisse gemacht hätte? Wenn ich bejaht hätte, ja, diese Krankheit ist keine Hippie-Flu, keine Islandgrippe, keine Massenhysterie, wie man noch vor fünfzig Jahren glaubte. Es gibt genug wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Dokumente, gerade aus der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts sowie den Achtzigerjahren, die beweisen, dass es sich um eine neurologische und wahrscheinlich infektiöse Erkrankung und Entzündung des Zentralnervensystems handelt. Was hätte meine Patientin jedoch für einen Nutzen davon gehabt, wenn ich eingestimmt hätte und gesagt hätte; ja, diese Krankheit gibt es, und sie ist seit über sechs Jahrzehnten bei der Weltgesundheitsorganisation unter g. 93.3 verschlüsselt und abgelegt, nur wird sie wegen von den Verfechtern des biopsychosozialen Modells torpediert und nicht in unseren Lehrbüchern geführt. Das alles hat die Patientin selbst erkannt. Das Krankheitsbild ist schwer und beeinträchtigt das Leben der Betroffenen wie keine andere chronische Krankheit. Trotzdem gibt es bisher keine Möglichkeit, den Betroffenen zu helfen. Darum frage ich Sie: warum hätte ich meiner Patientin meine teilweise Befürchtung, dass es sich bei ihren Beschwerden um diese unheilbare Krankheit handeln könnte, offenlegen sollen? Was hätte ihr dieses Wissen genützt? Es gibt Situationen, da verschone ich meine Patienten lieber mit der Wahrheit, besonders, wenn es sich um unheilbare Beschwerden handelt oder um Patienten, die emotional nicht sehr stabil sind, so wie Frau Stürmchen…“ – „Augenblick mal!“
An dieser Stelle wurde mein ehemaliger Hausarzt, der nach dieser Rede um nochmals Jahre gealtert wirkte, unterbrochen. Unten im Stadiongrund hatten Stadionwächter angefangen, einige der Herumliegenden an Händen und Füssen zu den jeweiligen Ausgängen zu schleppen. Viele der befragten Personen waren seit Minuten, einige sogar seit Stunden damit beschäftigt, die ihnen zugeordneten Ausgänge zu erreichen. Die Frau mit der leinenweissen Haut hatte sich langsam auf die Seite gerollt. Ihre dunklen Augen waren geöffnet und wanderten langsam durch die einzelnen verbliebenen Personen auf der Tribüne. „Ist es möglich, dass diese Person versteht, was wir von ihr verlangen, aber nicht reagieren kann?“, fragte der Pudelkopf. Er hatte die junge Frau ein weiteres Mal durch sein Megaphon aufgerufen. Man zog aus seinem Verhalten den Schluss, dass sie in einer klassischen Dissoziation feststecke, ausgelöst wahrscheinlich durch die stressreiche Situation. Der Sportmediziner, der sich auch auf Dissoziationen auskannte, lief auf den Rasen hinab und steckte der jungen Frau eine kleine rote Schote in den Mund. Diese Methode zeigte keine Wirkung, also kam man auf eine weitere Idee: die Frau sollte das Team schriftlich davon überzeugen, was mit ihr los war. Schliesslich wollte man ihr nicht die Chance nehmen, sich doch noch zu ihrem sonderbaren Verhalten zu äussern. Jeder hatte hier schliesslich diese Chance dazu! Papier und Filzstift wurden beschafft und neben dem reglosen Kinderkörper der Frau ins Gras gelegt.
„Gut, machen wir fertig! Mir scheint, wir wissen jetzt genug. Problemfall Stürmchen, mein Lö…blingsfall…“, begann der Pudelkopf wieder. „Wir haben jetzt so einiges über Sie gehört. Unter anderem auch, dass Ihnen immer wieder ärztliche Hilfe angeboten wurde. Gleich von mehreren Seiten hat man Ihnen Grosszügigkeit und verständige Anteilnahme entgegengebracht. Diese haben Sie, wie das mein Kollege vorhin eindrücklich schilderte, hartnäckig zurückgewiesen. Ist das so? Wieso?“ – „Ich möchte gehen, ich bin elend!“ Die Dosis des gespritzten Beruhigungsmittels war offensichtlich zu hoch gewesen. Mir war ausserordentlich schwummrig zumute. „Und wie lange geht das schon so?“ – „Seit über zwanzig Jahren…“ – „Sind Sie sicher?“ – „Was, Herr Richter?“, stammelte ich. „Dass Sie über einen so langen Zeitraum hinweg elend gewesen sind? – „Ja. Beinahe.“ – „Dann sind Sie nie mehr wohl gewesen, in Ihrem tadellosen, einwandfrei funktionierenden Körper?“ Der Pudelkopf lallte jetzt ein klein wenig. „Nein, zumindest seit sich die Krankheit verschlechtert hat, vor zirka fünf Jahren, nie mehr.“ – „Wenn Sie seit so vielen Jahren so elend sind, wie Sie es vor uns darstellen, warum haben Sie sich dann nicht längst das Leben genommen? Es ist nicht realistisch, dass man mit solchen Beschwerden das Leben dem Tod vorzieht.“ – „Ich….“ – „Gut. Ich sehe, dass Sie nicht mehr fähig sind, sich länger auf Ihre Ausflüchte zu stützen.“ Der Pudelkopf fixierte auf einmal den kleinen Bronzehammer vor sich auf dem Tisch. „Bevor ich Sie hier aus der Befragung ausschliesse, weil Ihre Antworten inadäquat, Ihr Benehmen auffällig ist und Ihre Persönlichkeitsstörung mehrfach erwiesen, möchte ich, dass Sie mir noch einmal nachsprechen: Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich behaupte, dass ich nie mehr wohl gewesen bin, seit fast zwanzig Jahren in meinem tadellosen Körper, obwohl man mir ärztliche Hilfe bot, noch und noch, die ich allesamt zurück wies, nur um im Recht zu sein und mich bei meinem Umfeld mit meiner Ansicht wichtig zu machen und die nötige Aufmerksamkeit für mich selbst zu kriegen, indem ich behaupte, dass mit meinem Körper, der einwandfrei funktioniert, etwas nicht funktioniert, wozu es keinerlei stichhaltige Beweise gibt, denn wenn es so wäre, wie ich es behaupte und die Lügen, die ich meinem Umfeld über meinen Körper erzähle, glaubwürdig wären, ich mir dann längst das Leben genommen hätte, weil wären diese Beschwerden realistisch und nicht gelogen: keiner könnte damit auf Dauer überleben.’“ – „Richter… ich… dieser Satz ist wirklich ziemlich lang… “ Die Hand des Richters mit dem Hammer ging langsam in die Luft. „Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich sage, dass ich nie mehr wohl gewesen bin, seit zwanzig Jahren, seit Ausbruch meiner Krankheit… in meinem ta … tad …el ….“ – „Sprechen Sie weiter…! Heben Sie bitte die rechte Hand in die Höhe!“ – „Ich kann nicht!“ – „Heben Sie die Hand trotzdem!“ Durch einen Schleier von Tränen sah ich, wie der bronzene Hammer langsam stieg. In dem Augenblick, in dem er auf der Tischfläche aufschlug, öffnete ich die Augen. Konnte es sein, dass ich jetzt, in diesem Moment, aus meinem Alptraum erwachte und wusste, wo ich war, wo ich lebte und zuhause war? War mein Alptraum an dieser Stelle zu Ende? Aber nein. Die Tribüne hatte sich nur geleert. Als Alptraummenschen, Ignoranten und Mitläufer huschten die Teilnehmer und Mitverantwortlichen meines Alptraums die Treppe hinunter. Das Mädchen mit der Milchhaut war nicht der erste junge Mensch, der inoffiziell an Organversagen starb. Es hatte auf das Papier mit krakeliger Schrift das Wort HELP geschrieben. Während zwei Personen in vertraulichem Gespräch auf den Ausgang zuschritten, flatterte es durch die Luft. „Ist dir nicht auch aufgefallen, Klaus, wie seltsam distanziert und komisch diese Frau – ich glaube, Stürmchen hiess sie – von ihren Symptomen geredet hat? Ich meine, normalerweise beschreibt ein Patient sein Leiden von Innen. Diese Patientin aber und einige andere, die da vorne aufgetreten sind, haben ihre Symptome so geschildert, als wären sie selbst die Ärzte!“ Die andere Person zuckte mit den Schultern. „Ja, das ist wirklich komisch. Eigentlich eine paradoxe Situation, wenn man bedenkt, dass die wirklichen Ärzte – mindestens zweihundert müssen es gewesen sein – da alle auf der Tribüne sassen. Ehrlich gesagt, ich weiss nicht, was ich vom Ganzen halten soll. Aber stell dir mal vor, der alte Mann, der am Schluss sprach, hat Recht, und die meisten dieser armen Teufel, die wir eben hörten, haben diese Symptome wirklich, und zwar reell, dann haben diese Betroffenen ihre Gründe, warum sie ihre Beschwerden nicht allzu subjektiv beschreiben. Sie wissen ja, dass es keine Möglichkeit gibt subjektiv glaubhaft zu machen, dass physisch etwas nicht in Ordnung ist mit ihnen, sie haben das ja erlebt. Im Gegenteil, je stärker und eindrücklicher sie ihre Symptome von Innen her beschreiben, umso schlimmer wird es für sie, weil man ihnen dann vorhalten kann, dass nur Hypochonder ihre Beschwerden so vielfältig und farbig ausmalen können, nicht aber physisch Kranke …“ – „Und deswegen müssen sie sich gleich als Ärzte aufspielen? Was meinst du als Chakra-Therapeut übrigens mit reell? So, wie ich dich kenne, ist de Wissenschaft für dich nicht feinstofflich genug, die Realität zu erkennen …“
Es gibt Alpträume, aus denen erwacht man nicht. Man kann so laut schreien, wie man will. Keiner hört einen.
(2020)