Testimony ohne Zeugen_

 

Von den verschiedenen Arten, zu verschwinden. Kenne sie längst nicht alle. Zum Beispiel jene chronische Erkrankung, bei der man fast nur noch liegen kann, weil die Kraft nicht mehr zum Leben reicht. Ich bin davon betroffen. Den heutigen Tag habe ich etwa zu fünfundsiebzig Prozent im Bett verbracht. Dann habe ich noch die Vorhänge von den Fenstern geholt. Wieso das? Vielleicht war es einmal Zeit für eine Änderung. Oder aber ich brauche einfach keinen Sichtschutz mehr. Dazu fallen mir spontan zwei Sprüche ein. Der eine prangte jahrelang auf dem Pullover meines Sekundarlehrers: Ranger les Alpes pour voir la Mer. Den Anderen, Schöneren, habe ich mal in einem verfilmten Buch von Kundera aufgeschnappt: Wir müsssen leben wie in einem Glaushaus, als gäbe es keine Geheimnisse! Neben den Vorhängen, die ich selbst hier her mitbrachte, ins Studio 12, sind meine Fenster mit einer grauschwarzen, elektrischen Store ausgestattet. Ich habe sie so gut wie noch nie runtergelassen, da sie nach Innen nicht abdunkelt, während man mich von Draussen hier drinnen offenbar nicht sehen kann. Ist das nicht seltsam? Eine Store muss so konzipiert sein, dass beide einander sehen können; die von Draussen die von Drinnen, wie die Drinnen die von Draussen! Oder aber sie muss blickdicht sein, so dass beide einander nicht sehen können.

Jetzt, mit den blanken Fenstern und einer Aussicht durch vier längliche Terrassenfenster komme ich mir in meinem Bett ein wenig vor wie auf einem Floss. Mein Floss heisst Madame Immobile, aber eigentlich will ich ein Schiff sein mit richtigem Namen. Seemöwe zum Beispiel oder Titanic II. The Conqueror. Aber man kann ja nicht wünschen. Mein Floss wurde vor langer Zeit abgetrieben und dümpelt in der Sphäre von Brackwasser vor sich her. Jetzt, ohne Vorhänge, schwenkt in jedem der Fenster eine Reihe riesig hoher Bäume ihre Äste. Die längsten von ihnen reichen mit ihren Stämmen vermutlich bis zum Fluss hinab, sie münden im Sandbeet, das etwa fünfzig Meter unterhalb des bewaldeten Abhangs die Flussschlaufe umsäumt. Manchmal treibt der Wind einen leicht säuerlichen Tang-artigen Duft zu mir herauf. Dann erinnere ich mich, wie nah ich dem Wasser bin. Nicht selten höre ich den kurzen gellenden Schrei von Enten.

Ein Floss also, oder ein Bug. Eine Autofähre könnte ich ebenfalls sein, da mein Bett mehr oder weniger an die blaue Parkzone hinter dem Gehsteig grenzt. Vom Bett aus kriege ich mit, wie die Arbeitenden und Besucher des nahen Heims täglich aus ihren Autos steigen, in welcher Stimmung sie die Autotüren zu schlagen undsoweiter. Auch von den Sonntagsausflüglern des naheliegenden Reichenbach-Waldes wird die Parkzone benutzt. Die lange gerade Reichenbachstrasse, meine Koordinate, besass bei den Römern den Namen Vicusstrasse und soll von vielen Siedlungen umschlossen gewesen sein. Ich denke manchmal an diesen Umstand, wenn es direkt vor mir zu Einparkszenen kommt. Oft sind die Freiräume zwischen zwei Autos zu knapp und die Autolenker versuchen, ihren Wagen frontal oder rückwärts in die Lücke zu zwängen, ehe sie doch noch aufgeben, nach vielen, vielen Minuten. Einmal habe ich in diesen sonderbar kleinen Zwischenraum einen Stuhl gestellt, ich glaube, es war an einem Sommerabend im August. Der Himmel hatte diesen Bernsteinfarbenen Glanz, wie man ihn an ganz warmen Tagen sieht, wenn die Bäume die Luft wie einen Turban auf ihren Kronen tragen. Jetzt, wo es wieder Sommer wird, werde ich diese Farben vielleicht noch einmal sehen. Ich werde hinausgehen und an den Fluss hinab tappen. Dort, wo zwei riesige glatt gewaschene Baumstrunk ins Wasser ragen mit meinem nackten Fuss ein Wort in den Sand schreiben. *Sandentadelte, vielleicht. Ich bin gerade so in Kritzelstimmung. In den letzten zwei Wochen habe ich zusehen können, wie die Überreste des Winters verschwunden sind. Je grüner und voller die Bäume wurden, umso näher rückte die Baumkulisse an mich heran. Eine optische Täuschung, kann sein. Auf jeden Fall brauche ich nur eine Hand auszustrecken; und schon kann ich die stieligen Blätter berühren und zwischen meiner Hand zerknüllen. Dass ich nicht freie Fahrt habe, sehe ich an den staubigen Fensterscheiben. Vor einiger Zeit habe ich den Namen Amber in das Glas gekritzelt. Amber ist eine amerikanische Schauspielerin, die sich mit ihrem Ex-Mann Johnny Depp, dem Darsteller von hoch lukrativen Piraten-Blockbustern zurzeit eine richterliche Schlammschlacht liefert. Johnny und Amber, jeder, der sich ein bisschen für die Überresten des alte Hollywood-Glam interessiert, weiss es: Die beiden waren über Hals und Ohren in einander verliebt, heirateten, fingen an, miteinander zu streiten. Es kam zu verbalen und physischen Angriffen beiderseits. Nach einem Jahr Ehe reichte Amber die Scheidung ein und verklagte Johnny wegen häuslicher Gewalt. Johnny rief bei Amber an und sprach ihr ins Gewissen: „Komm, lass uns das privat ausfechten, nicht vor aller Welt!“ Aber Amber meinte: „Nein, Johnny! Gehe du vor Gericht und sage der Welt: ich Johnny Depp bin Opfer von häuslicher Gewalt geworden!“ Johnny Depp blieb nichts anderes übrig, als zu kontern. Er klagte Amber wegen Verleumdung an. Und dieser Veleumdungsprozess wird nun seit sechs Wochen auf unzähligen Sendern sowie online live übertragen, wie ein Bergmannsches Kammerspiel. Ich habe bisher fast jeden Trail auf Life and Crime verfolgt. Es sieht ganz so aus, als würde Amber den Prozess verlieren. Sie wird vom Netz und den Medien gehasst. Sie stellt sich offenbar nicht dar, wie sich ein weibliches Opfer darzustellen hat. Ich bin aus komplizierten Gründen auf der Seite von Amber.

Wenn Arbeiter und Besucher des Heims an meinem Studio vorbei gehen, drehen sie fast immer frontal die Köpfe in Richtung meines Fensters. Mir ist unklar, warum sie dies tun. Vielleicht haben Fenster dies so an sich, dass man mechanisch hineinschaut, und dabei glaubt, selbst sei man ungesehen. Jetzt, wo ich die Vorhänge abgenommen habe, kann man mich, je nach Lichteinfall von Draussen im Prinzip sehen. Aber es ist auch möglich, dass man mich nicht sieht, weil der Schriftzug, den ich mit dem Finger in die staubige Fensterscheibe eingravierte, die Voyeure davon ablenkt, ins Innere zu spähen. Ich gebe zu, dass ich auch ein Stück der Aussenmauer bekritzelte. Ich schrieb: No War, only with Words, mit dem rosenholzfarbigen Art-Lipliner von Bobbi Brown. Warum ich es tat? Oh, es kam so aus meinem Innern heraus! Vielleicht, weil ich selbst einmal geglaubt habe, man könne mit Worten alles lösen. Weil ich an die Kommunikation glaubte, wie jemand an eine heilige Madonna. Ist es nicht ein überraschender Gedanken, dass man jeden Krieg verhindern könnte, wenn man miteinander redet? Worte besitzen das magische Zeug zur Versöhnung. Einen Krieg mit Worten lösen zu dürfen, was für ein überraschendes Gelingen. Oke, das sind so meine Gedanken. Daran habe ich geglaubt. Und glaube es jetzt nicht mehr. In den letzten Jahren habe ich soviel geredet, besonders mit Ärzten. Ich habe Organisationen angeschrieben, mich eingesetzt für unsere Sichtbarkeit und gegen das Verschwinden. Ich war nicht besonders erfolgreich, hatte das Gefühl, je leidenschaftlicher ich für meine Anliegen kämpfe, umso mehr versacken die Worte. Auch zwischen Dolly und Glöckenweh führten die Worte zu Nichts. Während sie sich zwischen Amber und Johnny so sehr verhärteten, dass sie ihren privaten Krieg nur noch mit Hilfe des Gerichts beenden können. Beide haben ihr Testimony schon vor vielen Tagen abgelegt. Viele Zeugen wurden geladen, die für den Ausgang des Prozesses sehr wichtig sind. Kann es ein Testimony geben ohne Zeugen? Es wäre dann bloss eine Geschichte, die jemand sich selbst erzählt. Eine Geschichte, die man sich selbst erzählt, kann man einmal so, dann wieder so erzählen. Jede Geschichte, die man nur sich selbst erzählt, ist aber wahr und unwahr zugleich. Jede Geschichte, die man nach Aussen trägt und nicht explizit sich selbst erzählt, dagegen nicht mehr die eigene Geschichte. Ich schrieb einmal über einen Menschen, den ich so gut kenne, wie meine eigene Rocktasche. Doch weil ich über diesen Menschen, Dolly, meine ich, irgendwann fast alles wusste, wusste ich am Schluss überhaupt nichts mehr über ihn. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ich über Dolly schreiben sollte. Laufend erfuhr ich neue Dinge über ihr Innenleben, die Emotionen und Reflektionen. Doch welche Informationen für Dollys Biografie relevant waren, welche nichtig, das wusste ich nicht. Fast alles über jemandem zu wissen, bedeutet, dass man nie zu Ende kommt, dass sich immer neue Blickwinkel auf die Person eröffnen, zumindest, wenn man versucht, etwas über diese Person zu schreiben. Ich ertrank in der Flut der Möglichkeiten, alles oder nichts, zuviel oder zuwenig über Dolores zu sagen. Nicht in der Flut von Ereignissen ertrank ich, denn die Biografie, um die es ging, war eine ereignisarme, karge. Nein, ich meine: in den Möglichkeiten, wie ich einen Satz schreiben kann, damit er eine Empfindung, eine Laune oder Stimmung ausdrückt, so, wie die Empfindung, die Laune, die Stimmung tatsächlich empfunden wird! Dolly erfand sich gerne neu, sie schlüpfte in Rollen, wollte einmal so, dann wieder so abgebildet werden. Sie wollte, dass ich klare und gut lesbare Bilder von ihr male, damit man sie erkennt. Als ich über Dolly schrieb, hat meine Arbeit oft darin bestanden, mehrere Seiten in einen Absatz zurück zu verwandeln, von da zu einem Satz zu kürzen und schliesslich vor dem blossen Wort zu brüten. An einem Tag kann ein Satz richtig klingen, sieben Tage später tönt er falsch. Schliesslich brach ich mit der Geschichte ab, und Dolly war verständlicherweise wütend: „Aber du hast ja gar nicht mich gezeigt! Nicht wer ich wirklich bin!“ – „Ja, aber Dolly! Du hast mich vor die Tatsache gestellt, a: wie schreibe ich einen längeren Prosatext über ein Person, über die es so gut wie keine Angaben gibt? B: mit welchem Füllmaterial, wenn alles Relevante in wenigen Sätzen gesagt ist, nur auf eine einzige Art gesagt ist …  schreibe ich dann dasselbe wieder und wieder, nur: immer wieder auf eine andere Art?!“ Aber lassen wir das. Dollys Geschichte ist nun verschwunden aufgrund meines Versagens. Und Dolly selbst folgt der verschwundenen Geschichte auf dem Fuss. Die wenigsten Menschen überleben ihre eigene Geschichte. Meistens ist es die Geschichte, die ein klein wenig über die Lebensdauer ihres Menschen hinausragt. Was aber ist, wenn ganze Gruppen verschwinden? Bis auf den letzten Zeugen? Wie gesagt, es gibt verschiedene Arten des Verschwindens. Tiere, zum Beispiel, verschwinden vor unseren Augen, ohne, dass wir hinsehen. Gletscher verschwinden. Ist einfach so. Kulturen und Traditionen verschwinden. Wir belächeln das Verschwundene, glauben, es kommt immer was Besseres nach. Menschen, die nicht konform sind, lässt man verschwinden. Man nennt dies Verschwindenlassen.  In Lateinamerika gibt es einen internationalen Tag der Verschwundenen, an dem verschwundenen Mexikanern und Kolumbianern gedacht wird, die seit Zweitausendundsechs verschwunden sind. Es sind an die zweihunderttausend Menschen. Was mit diesen Verschwundenen passiert ist, warum man sie verschwinden liess? Oft weiss es niemand. Ist ein Mensch einmal verschwunden, ist er dem staatlichen Schutz entzogen. Über einen verschwundenen Menschen heisst es auf der Website zum internationalen Tag der Verschwundenen: „Eine verschwundene Person ist, solange sie verschwunden bleibt, ein Rätsel. Der Verschwundene passt in kein Raster, ist ein Mensch ohne Materie.“ Ist es da ein Wunder, wenn die Angehörigen eigenhändig losziehen, um in Strassengräben und Kanalmündungen mit Axt und Hacke nach den Überresten ihrer verschwundenen Kindern oder Eltern zu suchen? Wer ein Kind, einen Freund oder Elternteil auf diese Weise verliert, kann niemals Abschied nehmen. Er weiss nicht, ob die verschwundene Person noch lebt, zum Beispiel eingesperrt in einem Lager, oder ob sie längst tot ist, nachts von Banden an den Rand eines Felds gekarrt, erschossen und an Ort und Stelle verscharrt.

Wer möchte da nicht lieber fliegen? Ich meine, seit wir diesen stahlblauen Himmel haben, seit Anfang Mai, scharen sich über dem Waldabhang hinter meinen Fenstern manchmal bis zu zwanzig grosse, schwarze Raben. Sie fliegen sehr hoch, ziehen wie Segelflugzeuge ihre Kreise, wenden in der Luft, fliegen mit Bauch nach Oben. Gestern flogen zwei Raben etwas tiefer, aber immer ganz dicht aneinander, mit gespreizten Flügeln, imponierten sie sich gegenseitig mit bodenfernem Flamenco. Da eroberte sich einer die Luftbahnen in einer Geraden, nahezu parallel zu einer tuckernden Flugzeugsspur, glitt dahin, so ohne Kraft. Dann ein Auftrieb in die Höhe und eine kurze Überlagerung mit dem winzigen, lahmen Flugzeug auf dem Hintergrund. So kurz die Flugschau dauerte, so schnell löste sich das Zusammentreffen der Vögel auf. Als es dämmerte, sah ich einen Raben vom Himmel stürzen und in bodentiefer Nähe zwischen den Beinen der Schafe durch das hohe Gras stapfen. Ich glaube, er schimpfte und schnatterte heiser. Raben verfügen über etwa zweihundertvierzig verschiedene Warnrufe. Sogar für den Menschen haben sie einen eigenen Warnton. Ich wüsste zu gerne, wie dieser Ton klingt, was er ausdrückt! Worin besteht die Warnung, mit der ein Rabe seine Umgebung vor einem Menschen warnt? Achtung, unzuverlässige, heimtückisch, höchst unbewegliche Stelzen?

Wenn es dämmert, treten die Geräusche von der nahen Baustelle in den Hintergrund, das Zuklatschen der Autotüren kumuliert und bricht dann ab. Niemand fragt mehr nach dem Tag, sobald er vorbei ist. Nun dringt auch das Bimmeln der Schafglöcklein in einem sonoren Dauerplätschern zu mir herüber. Einige Schafe stellen sich unter den Unterstand und legen sich schlafen, andere fangen wieder mit Fressen an. Erst in der Nacht wird das Bimmeln spärlicher und hört gegen drei Uhr morgens für einen Moment ganz auf. Dolly, ich habe sie schon erwähnt; sie hatte einen Freund, Glöckenweh, der war so schreckhaft, dass er ihr ein kleines Glöckchen ums Handgelenk band. Mit diesem Glöckchen sollte Dolores laut klingeln, sobald sie die Wohnung von Glöckenweh betrat. Um sich bemerkbar zu machen, schüttelte Dolores also ihr Handgelenk, so fest es eben ging und huschte mit klopfendem Herzen, auf leisen Sohlen auf Glöckenweh zu. Meistens sass Glöckenweh mit einem grossen Kopfhörer über den Ohren, Körper und Gesicht der Eingangstür zugewandt, auf einem Stuhl. Er war vielleicht ein Musiker und komponierte vielleicht gerade, als sich Dolly ihm bis auf dreissig Zentimeter genähert hatte. In dem Moment, kurz bevor sie ihre Arme um ihn schlang, sperrte Glöckenweh die Augen auf und schrak heftig zusammen: „Mach das nie wieder, mich so zu erschrecken!“, drohte er wütend. „Wo hast du dein Glöckchen, Dolly!?“ Ich weiss nicht mehr genau, was Dolores dann tat, aber ich denke, sie schlich wohl zurück ins Erdgeschoss, dahin, wo ihre Wohnung lag und suchte dort nach ihrem Glöckchen. Noch während sie die Treppenstufen zur Wohnung von Glöckenweh hinauf rannte, zum zweiten Mal, stülpte sie sich das Glöckchen ums linke Handgelenk, klopfte damit laut an die Türe und rief in aller Lautstärke seinen Namen. (Dieser war nicht Glöckenweh, versteht sich.) Aber Glöckenweh erschrak erneut: „Schleich mich nie wieder so an! Hast du verstanden!? Wo hast du dein Glöcklein, Dolly?“ Glöckenweh war richtig böse. So böse, dass Dolly die Umarmung vergessen musste, wegen der sie gekommen war. „Aber schau bloss, hier!“, rief sie hell und streckte Glöckenweh ihr Handgelenk unter die Nase. „Ich habe geklingelt! War ich denn wieder nicht leise genug?! Bitte vergib mir!“ Die Geschichte geht vielleicht noch weiter, die Geschichte um Glöckenweh, den Schreckhaften und sein Schmerz-Schaf, das es nicht verstand, im rechten Augenblick zu blöken. Weswegen, ich vereinfache jetzt, Glöckenweh das Dollyschaf bald einmal einwechselte gegen ein anderes.

„Hier! Da hast du noch das Glöckchen! Das kannst du deinen zukünftigen Kühen, Schafen und Hühner um den Hals binden!“, schrieb Dolores tief beleidigt, packte das pinkige Haarband mit dem Glöckchen in einen Briefumschlag, um es Glöckchenweh zu schicken, einige Wochen, nachdem die Beziehung endgültig zerbrochen war. Aber statt den Briefumschlag in den nächsten Briefkasten zu werden, setzte sich Dolly unterwegs damit an den Strassenrand und weinte. Sie weinte so sehr, dass die Aussentemperatur sank und ich mir den wärmsten Mantel anziehen musste, den ich auf meinem Dachboden fand, um ihr einen heissen Tee zu bringen. „Die Liebe stieg in ein Auto und fuhr davon.“ Sagte Dolores und schaute mich mit Tränen verschmiertem Gesicht an. Ich klopfte ihr ein paar Mal auf die Schultern und murmelte: „Komm komm!“ Es war einer dieser Tage, an denen Menschen wie Dolores nicht weiter machen konnten, an denen Menschen, wie Dolores darüber aufgebracht waren, dass das Leben rund um sie einfach weiter ging, wo doch alles rund um sie mit ihr untergehen musste, seine Funktion nicht mehr ausüben konnte, weil ihr etwas zugestossen war, etwas unermesslich Schmerzhaftes, das täglich Tausenden geschieht, aber das war kein Trost für Dolly. Eisregen prasselte auf die Haube eines Baggers, während hinter den Absperrungen und dem Toitoi der Friscowagen zur Durchfahrt wartete. Herr Friscomann lehnte an seinem Wagen und schaute hinab auf seine nackten, muskulösen Arme. „Dem Tag wird von einem kalten Realisten eine Schaufel in den Arm gedrückt, siehst du?“ Blökte Dolly mich Tränen überströmt an. „Sie bauen ein rechtwinkliges Wohnhaus, eine Mauer, vielleicht einen Tower!? Aber wozu? Wozu soll das gut sein?“, schnaubte Dolly blöd. Starrte störrisch auf den Bagger, die Absperrungen, das Toi, den Friscomann. Der Stückehimmel klarte nach vielen Tagen ein wenig auf. Eine Bise aus Ostsibirien kam nun gefahren und legte den verschrienen, gekrümmten Anblick von Dolores offen. Sie sass am Strassenrand und zeigte mit dem Finger auf ihr dünnes Hemd und fragte mich vorwurfsvoll: „Weißt du, wer ich bin? Eigentlich heisse ich Baby-Girl. Baby-Girl-Dickerchen-Grauhaar-Dolores-Schaf. Als über vierzigjähriges, mutiertes Dickerchen habe ich zuletzt in der Manteltasche eines Mannes gewohnt und mich darin gefühlt, wie ein Baby. Wie ein süsses Dickerchen. Auf alle Fälle wie ein Baby-Girl. Verstehst du?!“ Ich wusste nicht, was drauf antworten, zog meinen langen Mantel aus und legte ihn Dolly über. Sie warf ihn sich von den Schultern. Die Woche verging, und noch eine. Einmal klingelte das Handy, das auf Dolores Knien zitterte. Es war der Mann, der sie verlassen hatte, aber die Pflicht verspürte, sich hin und wieder nach Dollys Befinden zu erkundigen: „Alles in Ordnung bei dir, Dolly?“ – „Alles oke. Ich bin da!“, wisperte Dolores ins Telefon. Es war das legendäre Nokia Lumia, auf dem sie mit dem Mann zwei Jahre lang die verspieltesten Nachrichten ausgetauscht hatte. Der Rufton des Nokia Lumia hatte diesen bimmelnden Glöckchenton, diesen Klang von Wind, der über die gläsernen Stufen einer Wendeltreppe hinab gleitet, wie im Traum. Ebenso wie die Stimme des Mannes, die sich hell und knabenhaft im Gehäuse des Mobiltelefons fächerartig ausbreitete, und das Gerät zu einer Reliquie machte, eine bemooste Glocke, die über das ganze, weite Bauland hinweg musizierte (wo sie damals wohnten). Es war nicht falsch zu sagen; er, Glöckenweh hatte in Dollys Nokia Lumia gewohnt! Und seit sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie das Handy darum nie wieder aus der Hand gelegt. Aber Dollys Herz erstarb, als er, ein paar Wochen später, wieder eine Whatsapp schrieb. „Hi, alles in Ordnung bei dir? Lange nicht gehört. Kannst du mal kurz den Status durchgeben, entweder per, Whatsapp oder Phone?“ Zur Erinnerung: Dolores sass seit der Trennung, die viele Monate nicht klar ausgesprochen worden war, weinend am Strassenrand, mit dem Nokia Lumia auf den Knien. Die Tränen rannen ihr über den offenen Ausschnitt das Sternum hinunter und weiter über die Füsse auf den Asphalt, wo sich Schnecken einfanden, um zu baden. Das Haus war unterdessen fertig erbaut, doch nirgendwo zu sehen waren die Bewohner. „Die Leute, die in diesem Haus leben, sind noch nicht heimgekommen.“ Stellte Dolores grummelnd fest. „Es sind Scharen, die im Tower zuerst miteinander kämpfen, dann ohne einander. Berge von Argumenten saugt der Blumentopf aus dem Mark des Mannes, und Berge von Gegenargumenten aus dem Mark der Frau. Sie verstehen sich zuerst, und verstehen sich nachher nicht oder umgekehrt, simultan über Tausende von Stockwerken verteilt. Lisa-Dramedy-Diva Taff war sich der Wirkung ihrer Worte vielleicht zu bewusst. Sie brach mehr als ein „Mäh“ raus, und eigentlich erfüllte sie das innerlich mit Stolz. Bis sie feststellte, dass er sie trotzdem alle reihenweise vergass, die Worte. Lisa Dramedy-Diva Taff machte ihm also eine Szene. Diese hörte man durch alle Stockwerke hindurch! Lisa Dramedy-Diva-Taff rinnte, oh Schreck, durch ihn hindurch!“ – „Mach dir nichts draus!“, sagte ich verächtlich, und versorgte Dolores mit einem Sandwich. „Hier! Damit du mir nicht verhungerst! Siehst ja langsam aus, wie ein Clochard.“ Und ich bot ihr an, meinen Mantel dazulassen, denn es war mittlerweile Winter geworden. Dolly verneinte heftig. „Es beginnt zuoberst, auf dem Dach, mit der Magie, weißt du, mit dem Baby-Sein für mich!“, murmelte Dolores wie zu sich selbst im Schlottern eines Tages. „Dann folgt die Sternstunde des Redens und sich Austauschens, du konfrontierst ihn mit deinem Selbst, du kämpfst, dass er dich anerkennt! Ganz! Wie du bist!  Sp….ät….r k…nn …st … .du …. nur noch …Z….rrrr… stück….lung aus….mmch…n…. du siehst …. die …. Zrrrrrr…. Stck…..lung ….sch…fft die N…h….e ab!“ – „Kommkomm!“, sagte ich. Der Rotz lief ihr aus beiden Nasenlöchern, wurde aber von den schnelleren Tränen eingeholt, und so schrie sie ein ganz kleines bisschen wie Undine: „Baby weiss, Liebe ist aus Wellen gemacht! Nur aus Wellen, die steigen und sinken!“ Ein paar Monate später klingelte das Telefon.  „Dringdringdringdring!“ Dolores fuhr zusammen, wurde leinenweiss. „Geht es bei dir?“, fragte der Mann per Whatsapp. „Ich bin da …. Du musst dir um mich keine Sorgen machen.“ Das war fast das letzte Mal, dass Dolores ihr Nokia Lumia ans Ohr hob oder eine Nachricht an den Mann zurück schickte. Dieser Satz hatte Dolores so gut wie alles abverlangt. Mehr war nicht mehr drin. Sicher, gerne hätte sie nochmals mit den Worten begonnen, aber das wagte sie nicht. Sie hatten viel gesprochen und er war allergisch darauf geworden, weswegen sie auch aufhörte damit. Und so ohne zu reden, eigentlich, nur so mit Emotis und Smalltalk kam Dolly einfach nicht mehr weiter. Sie versagte, sie verstummte. Riesig war die Angst, sobald er sich meldete. Dolly wusste dann einfach nicht, was machen. Sobald das Handy klingelte, fühlte sie diesen Schmerz anstelle all der Worte, mit denen sie so gerne wieder begonnen hätte. Es fühlte sich an wie eine Strangulation, dem Mann nicht in Worten des Überschwangs, der Liebe, der Anklage, der Enttäuschung um den Hals zu fallen durch das Nokia Lumia, und stattdessen ein Emoti zu setzen. Er, Glöckenweh wollte nicht hören, was sie sagte, er wollte nicht wieder beginnen mit der Nähe und der Tiefe. Am liebsten, so hatte er schon während der Beziehung gesagt, lausche er ihrer hellen Stimme. Nicht dem Inhalt. Aber der Art, wie sie redete, intonierte, modulierte; das berührte ihn. Nicht, was sie sagte. Dollys Stimme konnte ebenfalls sehr glöckenhaft und samtig tönen, vielleicht war es das. Aber während er diese Stimme doch wegen der Worte zu verabscheuen begann, die nicht immer nur aus Samt bestanden, tat ihr die seinige dann eben weh, weil sie so viel das zu Sagen gewesen wäre ausschloss. Je seltener er mit ihr sprach, umso schöner tönte für sie seine Stimme, umso grösser wurde ihre Angst vor dem Nokia Lumia! Es war die verhinderte Versöhnung die zwischen der blossen Stimme und dem verworrenen Gesagten stand. Er, Glöckenweh, verhinderte die Versöhnung, weil er nicht reden wollte oder konnte. Weil ihm zuwenig daran lag. Dolores aber kriegte es mit der Angst beim Anblick ihres Handys. Sein Anblick tat ihr so weh, dass sie den Mann im Profil des Adressbuches Glöckenweh taufte! Wie sonderbar, dass da anstelle seines geliebten Namens, den sie im Herzen trug, plötzlich „Glöckenweh“ stand. War es nicht eine Art Warnung? „Ich nehme das Telefon noch ab, wenn er mich per Zufall man anruft, ja, das tue ich!“, sagte sich die tapfere Dolly. „Aber ich bin mir jetzt immer bewusst, dass dieses Glöckchen verdammt weh tut. Wirklich verdammt weh. Und weil ich das weiss, werde ich ganz vorsichtig sein. Und es wird zwischen uns zu keinem Streit kommen. Jeder Streit, den wir hatten, war einer zu viel. Und weil er für mich nichts wiegte, dieser Streit, kein einziger für mich etwas wiegte, habe ich alle Streits, die wir je hatten, vergessen. Wie soll ich Angst haben vor Streits, wenn ich den, der mit mir streitet, liebe? Ach, was soll ich bloss tun?“ Und sie weinte wieder bitterlich. Verhaltensweisen in solchen Geschichten sind unergründig, man kann nie alles erfassen. Die Sonne zwirbelte aus den Wolken, zerklatschte Fliegen auf silbrigen Windschutzscheiben. Ein Meislein kam und hüpfte im Halbkreis vorbei. Baby-Girl-Grauhaar-Dickerchen-Lisa-Dramedy-Diva-Taff-Dolores-Schaf sass weinend und frierend am Strassenrand da, als sich dieser Rand plötzlich von der Strasse löste und mit ihr davon schwamm. Ich stellte noch ein Denkmal auf, zwar an der Stelle, an der der Rand mit ihr davongeschwommen war: „Vermisst wird seit dem Mai Zweitausendundzwanzig der Liebesclochard. Er brauchte nicht diese Art von mehrschichtiger Geborgenheit, die durch keine Mauern geschützt wird, er brauchte diese gegenteilige Geborgenheit: die keine Wände duldet, keine Grenzen, keine Vorhänge, um dem Geliebten so nahe, wie möglich zu sein. Hat jemand vielleicht sein Handy gesichtet? Wir müssen leben wie in einem Glashaus, in dem es keine Geheimnisse gibt!“

Augenblick, ich muss mal einmal eine andere Position einnehmen. Es ist dies erst meine zweite Position an diesem Tag. Meistens navigiere ich auf der linken Seite liegend, manchmal auf den Rücken. Ich habe auch das Glück, dass ich noch sitzen oder bisweilen sogar gehen kann. Ja, ich gehöre zu jenen Kraftverschwundenen, die das hin und wieder schaffen. Wann immer es mir möglich ist, verlasse ich mein Floss, schlüpfe von hinten in meine leichten, blauen Sandalen und folge dem kleinen Pfad durch den Reichenbachwald. Die Nesseln sind hüfthoch. Überall sehe ich das Ineinander von Blättern, jungen und alten Trieben, Dornengestrüpp, wilde Brombeeren, mit Pilzen bewachsene Baumstümpfe und aus all dem von Kindern gebaute Wohnzelte. Manchmal habe ich dreihundert Schritte zur Verfügung, manchmal achthundert Schritte. Nie zähle ich sie. Unten am Ufer treibt sich der kleine Hulk herum. Sobald ich ihn sehe, muss ich ihn knuddeln, wie ein Baby an meine Brust drücken. Er hat einen weissen länglichen Fleck auf der einen Seite der Nase, während mein Hopf ein weisses Dreieck besitzt, das beidseitlich von seiner Nase zum Mäulchen verläuft. Hulk und Hopf, denke ich oft zärtlich, wenn ich Hulk im Zehndi unten begegne. Doch wenn ich daheim bin, dann grüble ich darüber nach, was ich mit Hopf machen soll, wer ihn holen kommt, und wann dieser Tag sein wird. Ich liebe ihn zu fest, als dass ich ihn länger bei mir haben könnte. Er spürt, dass unser Leben anders geworden ist, mein Floss untergeht. Werden die Zeugnisse vorher da sein? Es ist das zweite, das noch fehlt und vielleicht erst in vielen Monaten da ist. Wer kann Auskunft geben und einschätzen, ob meine psychische Versehrtheit auf Nimmerwieder verloren ist? Wer kann abschätzen und urteilen, ob meine Art des Schiffens und langsamen Auf Grund Laufens, eine Würde hat? Ich, Jeanne, habe eine Würde, ja, aber mein Leben auf dieser Art See hat sie nicht. Nur: wie trennen wir, was undurchtrennbar miteinander verbunden ist: ich und mein Leben? Niemand hat gesehen, wie alles gekommen ist, wie ich in meinem Körper erstarrte. Die Köpfe, die sich auf dem Gehsteig nach meinem Fenster umdrehen und eine Gestalt im Bett sehen, sehen nur diese eine Sekunde. Nur diese eine Sekunde eines langen, langjährigen Aushaltens! Von Aussen! Darum habe ich mir vorgenommen, mein Testimony abzulegen, wie man einen Körper ablegt, nein, mehr, wie man einen Menschen, einen ganzen Menschen abstreift. Dolly hat mich gefragt: „Ist es denn nötig, dass du diesen Schritt tust, wo du doch schon lange, lange verschwunden bist? Niemand zwingt dich, doppelt zu verschwinden. Kannst du nicht für dich sichtbar bleiben, einzig für dich?“ Dolly hat rührende Ideen, wo sie selbst durch das Ende mit Glöckenweh völlig aus der Bahn geworfen ist und mir laufend ihre eigenen potentiellen Verschwindemethoden rapportiert. Aber es ist wahr: Niemand zwingt mich. Ich muss nicht verschwinden, weil man dies explizit von mir verlangt. Weil man mich explizit für keinen Mensch hält! Ich bin keine Binnenvertriebene in meinem eigenen Land, eine Jesidin in einem dieser Camps for intern displaced people, zum Beispiel. Ich wurde dazu angehalten, mit Vergleichen aufzupassen, aber ich las: Noch immer werden zweitausendneunhundert jesidische Frauen vermisst. Zweitausendundvierzehn brachen IS-Schergen im irakischen Dorf Sindjar ein, töteten alle Männer und Alten draussen auf dem Feld und verteilten die Frauen und Mädchen unter sich wie billigste Ware! Als der IS zu schwächer wurde, gelang einigen Frauen die Flucht. Sie kehrten irgendwann in ihr Dorf zurück, um festzustellen, dass es dieses Dorf nicht mehr gab. Da waren nur noch Ruinen. Und auf dem Feld, über die verscharrten namenlosen Männer und Alten das Gestrüpp gewachsen. Die Frauen konnten sie nicht identifizieren und begraben, ihre Eltern, Söhne und Männer, für die es keine Zeugen gab. Vielleicht hat der eine oder andere Junge das Massaker gesehen, ehe auch er zum IS überlief, weil er keine andere Chance hatte. Wohin verschwindet die Identität eines Kindes, dem eingebläut wird, dass seine Eltern wegen ihres falschen Glaubens keine Menschen waren?
Wer möchte da nicht lieber fliegen? Wie die Schwalbe, die Dohle oder die Seemöwe? Schweben über dem dunklen Schatten des Wassers, da, wo das Meer am Tiefsten und am klarsten ist an Verschwiegenheit. Nichts hält so viel Verschwundenes in sich begraben, wie das Meer. Aber es ist auch ein Ort der grössten Klarheit, wie Sylvia Plath in ihrer Geschichte Ocean 1212-W schreibt: ‚Die Landschaft meiner Kindheit war nicht Land, sondern das Ende vom Land – die kalten, salzigen, rollenden Hügel des Atlantik. Manchmal denke ich, dass mein Bild vom Meer das Klarste ist, was ich besitze. Ich trage es in mir, verbrannt, wie ich bin, wie die purpurnen weissumrandeten Glückssteine oder die blauschaligen Muscheln, deren Inneres Regenbogenfarben schimmert wie die Fingernägel von Engeln; und in einer Welle der Erinnerung werden die Farben tiefer und glänzend, die frühe Welt holt Atem.’ Dieses klare Meer, wer weiss, hat Sylvia Plath nie verlassen, solange sie an ihrer glasklaren Lyrik schrieb. Sein Wuchten und Toben dringt durch all ihre Tagebucheinträge, ihre Briefe, zum Beispiel, wenn sie an Richard Sassoon schreibt: ‚dieser Glanz, der dich plötzlich umgibt, wenn ich dir beim anziehen, rasieren oder lesen zuschaue und du plötzlich viel mehr bist als dieses tägliche Selbst, mit dem wir leben, das wir lieben müssen, dieses flüchtige himmlische Selbst, das dann durchschimmert mit der Unverhofftheit eines Engels. Diese zuversichtliche Woge der Überschwenglichkeit, in der ich dir geschrieben habe, sank, wie Wellen es zu tun pflegen, zu dem Bewusstsein, das mich weinen lässt, nur dies eine mal: so einen winzigen Bruchteil des Lebens leben wir-‘ Diese Wahrnehmung stammt von einer Frau, die ihren Kopf in den Gasherd steckte, als diese Woge der Überschwenglichkeit unglücklichen Umständen zum Opfer fiel und für längere, ja, zu lange Zeit ausblieb. Viele sagen, Sylvia Plaths Selbstmord sei sowieso eine Frage der Zeit gewesen. Ich aber frage: und wenn es nur an den Umständen lag, am Schnee dieser letzten, schweren Wochen, in denen Sylvia es nicht länger schaffte, neben ihrer Geschichte zu bestehen? Wo waren die Menschen in Sylvias Leben, damals, in der Fitzroy Roadd? Ted, soviel war klar, war mit Assia auf und davon, Teds Art, Sylvia zu verlassen, trug vieles dazu bei, wie Sylvia verschwand. Vielleicht alles. Dennoch war Sylvia keine Unsichtbare gewesen, oh, nein. Aber sie war ja auch die Frau, die in einem Brief an Richard Sassoon, sagte: ‚Sagen, ich würde für dich kämpfen oder stehlen oder lügen, wäre einfach: ich habe den starken Wunsch, mich selbst bis zum Äussersten zu treiben, und wo der Kampf für Männer um die Sache geht, geht er bei den Frauen um die Männer …’ Diesen Kampf hatte sie ein paar Monate zuvor gegen Assia , gegen irgendeine, denn, so würde es Dolly sagen, diesen Kampf verliert frau gegen irgendeine, einfach nur gegen irgendeine. Aber während man mit Dolly sowieso nicht mehr über dieses Thema diskutieren kann, ist diese Geschichte von Plath und Hughes längst geklärt. Plath war zu stark. Um ihrem Mann, der ebenfalls stark war, aber ein Heuchler, den Platz zu lassen, den ersten Platz. Dies konnte sie nur solange ihre Liebe ausgewogen war, ein tiefes Band. Lange, ja, die ersten Jahre konnten sich die beiden starken Kräfte Ted und Sylvia die Waage halten, aber es muss auch deutlich gesagt werden, wie viel Sylvia für Ted in dieser Zeit an Arbeiten übernahm: die Hausarbeit, das Abtippen seiner Geschichten, den Versand und das Bewerben um Stipendien usw. Dass Sylvia diese zweite Geige spielte lag an der damaligen Zeit und der Zensur der Frauen ausgesetzt waren, die sich diesem kulturellen Fakt nicht unterordneten. Als die Liebe zwischen Ted und Sylvia Brüche bekam, wurde es für Sylvia schwieriger, die von ihr erwartete Rolle weiter zu erfüllen. Sylvia fühlte eine tiefe Feindseligkeit in sich selbst, eine Wut und Strenge, die sie fast immer gegen sich selbst richtete, aber dann und wann kehrte sie den Spiess und sie spie Galle, auch auf ihren selbstgefälligen, virilen Mann. Dieser Mann hatte für Sylvia ein Gigant ein Koloss sein müssen. Und weil er ein Gigant war, ein Koloss, war er ihr nicht treu geblieben, weil sich, gemäss Dolly und den Frauenrechtlerinnen, jeder so umwerfende Mann irgendwann früher oder später an anderem Fleisch testet, während sich die Ehefrau oder Liebende hinter dem geliebten Koloss zum Verschwinden bringt. Das ist die logische Konsequenz.

In den vier länglichen Fenstern, die ein wenig an Katakomben erinnern, wechselt sich momentan das Wetter beständig. Ein Platzregen stürzte eben aus einem schwarzen Wolkenteil nieder. Dann kam die Sonne und warf ihre gleissend hellen Pfeile durch die Baumwipfel, so silbern blendend, wie dieses Geschirr, aus dem meine Grossmutter früher den Kaffeerahm einschenkte. Zwei Polkatänzer tauchten plötzlich auf, sassen im linken Fenster auf den äussersten Zweigen des Baums. Sie mit Struwelhaar, hat ein Bein zum Klatschen ausgestreckt, auf seinem Kopf winkt ein Hut, der auch jetzt Feuer fängt, ganz helles, silbernes Feuer. Schon sehe ich schwarze Punkte vor meinen Augen, schwebende Löcher und ein hüpfendes; der Rabe Nevermore, wahrscheinlich. Pickt sich die durchnässten Futterstücke aus dem Napf meines Katers und legt sie in Reih und Glied zum Trocknen auf. Als ich mich im Bett aufrichte, hält er sofort inne. Schaut in meine Richtung, legt den Kopf schräg. Erkennt er mein menschliches Gesicht? Was bin ich für ihn? Eine Art schwammiger Fleck, in dem sich im oberen und mittleren Bereich ein paar Linien verzerren? Eine federlose Kuh, die ihn dazu bringen wird, einen Warnruf auszustossen? Jetzt? Was enthält dieser Warnruf, den der Rabe jeden Augenblick von sich hören lässt, für eine Warnung? Achtung, hier ist ein wildes Mammuth? Es ist aussergewöhnlich steif von der Art des Gliederbaus und der Bewegung, hat keine Flügel, aber Fäuste?! Vielleicht ist das Urteil des Raben über den Menschen viel sanfter, als das meine, wer weiss. Der Rabe ist weg. Die Sonne beginnt jetzt leicht zu Bluten, verquirlt nochmals ihre Strahlen im hellen und dunklen Grün und in der nassen Wolle der Schafe. Dies ist die Tageszeit ist, wo unten auf der griechischen Piazza ein Paar sitzt und schweigsam dem belanglosen Sonnenuntergangs zuschaut. Zumindest ist das Dollys Vorstellung, die gerne filmisch ist. Die Sonne wird nur für wenige Stunden auf der andern Seite des Erdballs sein. Und dann, ja, dann für den, der es will, der diesen plathschen Bruchteil der überschwänglichen Woge erleben will, wieder am Himmel stehen. Sie und er aber, beide Mitte Vierzig, befinden sich in einer Stimmung, die schwer zu erklären ist: sie haben die ganzen Ferien über gestritten. Was mit vielem Argumentieren und Diskutieren begann, artete plötzlich in Vorwürfe aus. Eine Feindseligkeit wuchs zwischen den beiden heran, wieder folgte ein Streit, diesmal im Hotelzimmer, und seit zwei Tagen nun schauen sie sich an wie Fremde. Die Frau ist vor etwa einer halben Stunde aus dem Hotelzimmer geflohen, runter an die Piazza. Sie hat sich ein Getränk bestellt und in Gedanken entschieden, den Mann zu verlassen. Wenige Minuten später folgt er ihr, setzt sich neben sie auf einen Stuhl. Ihre erstaunten, verlegenen Gesichter sind in das glühende Rot der Sonne getaucht und man kann sehen, dass sie ratlos sind. „It’s still there!“, sagt die Frau den Blick unverwandt auf die Sonne gerichtet, ohne das Gesicht nach dem Mann zu drehen. „It’s still there!“ Überraschung, Melancholie, ein wenig Bissigkeit auf den zarten Gesichtszügen der bezaubernden Julie Delpy. „It’s gone.“ Ein Bedauern, das einem Docht gleicht, der soeben erloschen ist. Und doch schaut der Mann, Ethan Hawke, jetzt zu ihr herüber, im dämmerigen Schatten. Der Zuschauer des Films, wenigstens er, erkennt: dieser Mann liebt diese Frau! Für ihn ist der Streit nicht die endgültige Entzweiung, für ihn hat allein ein Sonnenuntergang, den sie beide zusammen gesehen haben, den Konflikt aufgelöst. Wie hätte Dolores bei dieser Szene wieder geweint! Wieder und wieder hätte sie sich die Schlussszene dieses Films angesehen, so, wie sie lauter filmische Schlusszenen mit ihrem Nokia Lumia sequenzierte, die Höhepunkte rausschnitt, die wichtigsten Wortwechsel, die schönsten musikalischen Abspänne. Szenen aus Liebesfilmen, in denen Dolly so gern mitgespielt hätte, in all den Jahren, in denen es Glöckenweh noch nicht gab, und nachher, da wollte sie zumindest mit all denen, die den Liebesverlust nicht ertragen hatten, in den Tod gehen, wenigstens im Film. „Der Film, das ist nicht das Leben, sondern das bessere, echtere Leben!“, fand Dolores. Und darum wollte sie auch, dass ich sie in diesem Buch, das ich über sie schrieb, in unterschiedliche Rollen kleidete. Dass sie, wenn sie schon in keinem Film mitspielen konnte, im Leben, wenigstens eine Figur werden konnte, halt in einem Buch. Dumm nur, dass Dolly dieses Buch nicht gerade selber schrieb und jemanden wie mich dafür anheuerte, was ja schlecht rauskommen musste. Wer so eine klare Vorstellung hat von seiner eigenen Geschichte, der muss diese Geschichte selber schreiben. Immer! Aber Dolly fand sich eben zu blöd dazu. Sie sagte immer: „Ich habe noch kein Leben, ich bin noch kein Jemand, ich kenne meine Geschichte noch nicht, es gibt noch kein Drama über mich, nicht mal einen roten Faden. Und doch fühle ich, ja, das Einzige, was ich wirklich mache: ich fühle, wie man im Film fühlt!“ – „Was ist das, wie im Film fühlen?“, fragte ich. „Das bedeutet, dass mein Gefühl der Dauer und Intensität den Akteuren eines Films gleicht, nicht der wohl temperierten, fragmentierenden, Art der Alltagsmenschen der Realität. Wenn ich etwas sehr Starkes fühle, dann halte ich mit diesem Gefühl die Zeit an, ich kann dann nicht mehr weiter, nicht mit diesem Alltag. Ich müsste dann zu einer Lösung, einem Schluss kommen, wie man im Film zu einem Schluss kommt. Aber gleichzeitig ist dort das Gefühl unsterblich, im Film, meine ich, es ist gewandelt in diese abstrakte Ästhetik, und ich könnte immer wieder ein Gefühl erleben, es bis zum Exzess auskosten und sterben daran, wenn ich nur zum Leben stehen könnte wie ich in einem abstrakten Film zum Leben stehen könnte. Wenn du verstehst, was ich meine! Aber dafür ist die Welt, die mich umgibt, nicht geeignet. In ihr gibt es für jede Szene nur einen einzigen Dreh. Und immer hängt die Szene von den Umständen ab, den Umständen, die nie schön genug sind, immer diktiert durch den Alltag, hässliches Füllmaterial, Verworrenheiten, Grau.“ Ich verstand nicht ganz, was Dolly meinte. Aber ich denke, sie hätte ganz einfach gerne das Leben eines Starletts geführt, genau so wie Amber. Ja, Dolly wäre gerne eine Klein-Amber gewesen, die den Beruf braucht, die Rollen braucht, um nicht mehr unterscheiden zu müssen, welche Rolle nun Film war und welche das Leben. Ein Leben, in dem es dieses Verwischen der Realitäten gibt, die Vermischung mit dem Traum, in dem auch Dollys bald einmal starrer Schmerz eine andere, dynamischere Form angenommen hätte. So persönlich der Schmerz der Schauspielerin und des Schauspielers, so ist er ihnen zu einem Grossteil schon abgenommen worden von der Öffentlichkeit, die jetzt im Begriff ist, aus dem privaten Versagen der beiden Schauspieler einen neuen Film, eine weitere Legende zu erschaffen! Und in einer Legende gleichen Schmerzen nicht mehr diesen kleinen, elenden, nichtigen Stichen, die einen vernichten, ohne, dass man darüber reden kann, weil sie so komisch und lächerlich klein sind, so persönlich. Im Persönlichen kommt das Menschliche zum Vorschein. In einer Legende ist der Schmerz etwas Auferstandenes, er besticht durch Kraft und Schönheit, er hat sich gewandelt zu einem Monument! Er macht den Schmerz unsterblich! Eine Legende kann niemals verenden, so, wie Dolores aktuell verendet; verlottert am Strassenrand, mit dem Nokia Lumia und dem Glöckchen im Schoss, zu Marmor gefroren, vom langen Warten auf ihn, der niemals mehr an diese Strasse vorbeikommen wird, weil es für ihn nichts mehr zu Reden gibt und nichts mehr zu fühlen. Für ihn war diese Geschichte, eine unter vielen, abgehakt. Aber in ihr, Dolly, sind dummerweise noch Tausend Gefühle für ihn am leben, jetzt abgemurkst durch seine Ablehnung, sie anzunehmen und zu hören. Darum sass Dolly so lange da und konnte sich niemals wieder bewegen. No war. Only with words. Ist es denn nicht legitim, zu kämpfen und den andern zum Kampf aufzufordern? Der Zweck des Kampfes ist doch nicht der Kampf selbst, sondern die Verbesserung und Stärkung einer Beziehung, oder, wenn es sich nicht um zwei Personen handelt, um zwei Gruppen oder Länder etc.; die gegenseitige Anerkennung durch das Miteinanderreden?!  Aber wer kann das schon? Ich meine, dann, wenn der Konflikt anfängt, zu eskalieren, wenn er so verstrickt und komplex ist, dass man nur entweder weglaufen kann oder es vergessen und neu anfangen …? Aus den Tapes, für die Amber Heard so beschimpft wurde, geht hervor, dass sie mit Johnny immer wieder neu anfangen wollte. Seine defensive Haltung und sein ständiges Weglaufen erlebte sie als Bedrohung. Sie sah darin einen Mangel an Liebe. „We cannot work out our problems if you all the time splitt and go to the bathroom if we fight!“, ruft Amber in einem dieser Audiobänder hysterisch, ja, verzweifelt. Läuft er weg, wenn sie den Konflikt bereinigen will, ist das für sie, als würde er sie verlassen. Für die Ewigkeit! Vielleicht habe ich darum den Namen der Schauspielerin in die Mauer geritzt. Weil ich anhand eines so fragwürdigen Prozesses so viel über Amber respektive Dolly erfahre. Einmal hat Dolly mich angerufen, offenbar unter einer neuen Nummer. Weinend und aufgelöst fragte sie mich: „Du machst du mit mir dieses Spiel Ich packe in meinen Koffer!“ – „Warum, verreist du, oder warum soll ich mit dir Koffer packen?“, fragte ich. Worauf sie die Frage überging und meinte: „Stell dir vor, er hat dich verlassen, und am Schluss, da war da zwischen euch noch mal ein Streit. Und nun hast du dir diese Hölle geschaffen, dass du bis ans Ende aller Tage in der Entzweiung mit ihm leben musst, bis zu letzten Sekunde deines Lebens. Für ihn ist dieses Ende nicht schlimm, da sein Leben noch lange weitergeht, er ist aufgebrochen, er liebt eine Andere, er verkraftet jeden Kollateralschaden angesichts dieser Lebens in der Hoffnung, das ihm noch zur Verfügung steht. Aber du nimmst diese Entzweiung mit, du bleibst im Krieg bis in alle Ewigkeit, und darüber hinaus; mit ihm, mit dir selbst, diese Rolle kannst du nicht mehr abstreifen, weil das Schicksal sie schrieb. Ewigkeit, du weißt doch was das heisst!?“ – „Ich habe den Begriff nie wirklich verstanden.“ Sagte ich wahrheitsgemäss. Aber Dolly klagte weiter: „Und darum, ich meine, in diese Ewigkeit hinein muss ich meinen Koffer packen, aber ich weiss eben nicht, was ich in diesen Koffer hinein tun soll, ich finde, von all dem, was man so in einen Koffer packt, brauche ich nicht mehr, Jeanne, verstehst du?! All diese Dinge, die Zahnbürste, die Haarschnallen, die Ovomaltinen, die Tampons und geliebten Bücher, die Hängerchen und Röcke, die Pflaster und Nachtlampen, all das nützt mir nichts mehr! Jeanne, du weißt ja, was überleben heisst! Aber ich, ich gehe mit einem leeren Koffer!“ Sie brach ab, das Gespräch war beendet. Es war eines dieser typischen abrupten Dolly-Gespräche gewesen, mit denen sie mich gegen Schluss hin und wieder anrief. In einer Phase, in der sie nur noch aufgebracht schreien oder weinen konnte. Aber vorhin, als ich der Dämmerung zuschaute habe ich plötzlich wieder an diesen Satz gedacht, ich glaube sogar, ich sagte ihn vor mich hin: „Du weißt doch, was das heisst; Ewigkeit!“ Ich lag auf meinem Floss, ein Kissen im Nacken und schaute dem Herannahen der Dämmerung zu. Die Sonne war schon auf Waldhöhe und verlieh den Wolken diesen pfirsichroten Ton, gelblich zerlaufend an den Rändern, während der Himmel allmählich hellblau ausbleichte. In jedem meiner länglichen Fenster verschoben sich die Details ununterbrochen. Der Wind war nie still, also war da ununterbrochen dieser Tanz von Fangarmen. Hände, die aus den Mitten der Kronen ausfuhren, wie mit unzähligen Rasseln behängt. Einmal wirkten die Bäume aufgelöst und zerzaust, dann wieder wie ein geschlossenes sanftes Wiegen. Das Sommergrün changierte von Hell zu Dunkel, von Grell zu Matt. Aber all diese Veränderungen stammten doch von den Verhältnissen des Lichts, der Wolken und des Himmels. Ich dachte, dass das, was ich sehe, dasselbe ist, wie das, was ich morgen sehe, dasselbe ist wie, was ich gestern sah, dasselbe ist, wie was ich in einer Woche sehe, falls ich noch da bin, ja, wahrscheinlich, werde ich nie wieder ein anderes Bild vor Augen haben, als gerade diese Baumreihe auf dem Hintergrund gerade dieser Wiese mit gerade diesen Schafen. Und ich habe mich gefragt, ob es einmal einen Tag gibt, wo diese Kulisse nicht mehr existiert, der Stein und die Hügel, der Fluss und die Vegetation. Ich meine, wenn man bedenkt, dass das alles doch schon bei den Kelten und Römern genauso da stand: was für ein reichhaltiger Zeitzeuge könnte dann die Natur sein? Ich meine, verglichen mit dem, was ein einzelner Mensch speichern kann, während seiner kurzen Zeit auf Erden?! Sowohl der Römer als auch Dolly haben vielleicht den Reichenbachwald begangen, sie haben dieselbe Natur gesehen, obschon dazwischen Zweitausend Jahre liegen. Aber haben sie bei diesem Anblick etwa dasselbe gefühlt!? Kaum! So unglaublich vergängliche und melancholische Zeugen hat dieser Wald in den menschlichen Winzlingen, die mit einem zutiefst subjektiven Blick, dem Stein, dem Baum, dem Blatt das Wort Ewigkeit andichten, zum Beispiel, ich, weil ich mit dieser auswegslosen Sache, da, im Bett liege, oder zum Beispiel Dolly, die einen Menschen nicht mehr loslassen kann und darüber verzweifelt.

Als kleines Mädchen glaubte ich, das Meer sei ewig. Ich nannte es vielleicht ewig statt unendlich, weil ich beim seinem Anblick das Gefühl für die Zeit verlor. Wir waren damals in den Achtzigerjahren zum erstenmal ans Meer gereist. Kurz nach Barcelona erblickte ich einen dunkelblauen Samtteppich, der unentwegt an die senkrecht abfallende, zerklüftete Felsküste heran wuchtete. Der wuchtige und grossartige Anblick der Weite, wie ich sie so noch nie gesehen hatte, stupste, flutete mir das Herz mit einem seltsam paradoxen, schmerzhaften Gegenstrom: „Ich will wieder heim, Mami, Papi, ich will wieder heim!“ rief ich. Nach dieser ersten Flut von Wehmut, war das Drama vergessen. Vergnügt lief ich am nächsten Morgen in meinen styropornen Badeschlarpen durch den sandigen Pinienhain hinunter an den Strand und von da direkt in die sprudelnden, langgezogenen Kämme hinein. Das ging zehn-, zwanzigmal so, ehe ich mich atemlos in eine gebuddelte Sandmulde hockte, um für Stunden nichts anderes als das Meer zu betrachten. Bisher hatte ich nur Seen gesehen, eisige Bäche geschmeckt, stehende Süssgewässer, die am andern Ufer wieder in begraste Hänge, menschliche Behausungen oder umgehend in aufgeworfene Steinwälle übergehen. Ich hatte viertausend Meter hohe Berge erklettert und Treppenstufen ohne Ende. Das Meer aber ist ewig. Es wird am Horizont durch eine Linie beschnitten, aber nur für die Augen, damit diese dahinter, hinter dieser Linie, nicht einfach in das Loch der Ewigkeit hinabfallen. Dachte ich mir. Abends, wenn ich salzig-klebrigen Tag von der brennend trockenen Haut geduscht hatte, stieg ich auf die Dachterrasse des Bungalows, um schon wieder in der Nähe des Meeres zu sein. Mit ausgestreckter Hand griff ich nach der Sonne, die wie eine Riesin die Wäscheleine zwischen ihren feuernden Mundwinkeln fasste und hinter der Linie verschwand. Das Meer ist ja kein Ort, es ist nur eine Ewigkeit. Eine, die jetzt klart, sich tief schluckt an Dimension und Schatten, während der Ort rundherum verbleicht. Als die Abreise von der Costa Dorada bevorstand, fragte ich meinen Vater: „Gehen wir nächstes Jahr wieder ans Meer?“ Der Vater geriet bei einem letzten Cointreau mit Tamtam von einem kleinen Bergsee, Zweitausendneunhundertmeter über dem Meeresspiegel, zwischen unbegehbarem Eis und geschichteten Moränen, ins Schwärmen. „Nein“, sagte er, „Nein! Das Meer langweilt mich sehr. Und es macht uns träge!“ Als wir losfuhren presste ich mein tränennasses Gesicht wieder an die Fensterscheibe des Autos. „Papa, was kommt nach dem Meer?“ – „Nach dem Meer? Da sind wir etwa in Grenoble, beim Mittagessen!“ – „Nein, was kommt nach dem Meer!?“, wiederholte ich mit insistierender Stimme. „Auf der andern Seite des Mittelmeeres liegt ein riesiger Kontinent. Grösser, als du es dir vorstellen kannst.“ Antwortete Dad. „Ja und dann? Hat dieser Kontinent auch ein Meer? … Papa? … Wie komme ich von unserem Meer zu diesem Meer? Ich möchte den Überblick haben über alle Meere, die es gibt!“ Das tönt fast so, als spricht hier ein Eroberer, doch viele Jahre später ist mein Schiff ein kleines Floss, das an Ort und Stelle im Brackwasser vor sich hin dümpelt. Kann es sein, dass es niemals wirklich vor Anker ging? Wie kann man verschwinden, wenn es diese Woge der Überschwänglichkeit nicht mehr gibt? Es ist eine Woge, die Plath weinen macht, weil sie in ihr den Bruchtteil des gelebten Lebens erkennt, doch einige werden von dieser Woge nicht mehr hochgetragen, werden für immer von ihr verschluckt? Ich habe meine Bekannte Yemina nie gesehen, in all den sechs Jahren nicht. Ich habe ihr geschrieben: Du Yemina, ich muss was Verrücktes tun! Ich werde den Zug nehmen und zu dir in den hohen Norden reisen. Schau mal aus dem Fenster, und sag mir, wie es draussen im Hof bei dir aussieht, damit ich weiss, wie du lebst!“ – „Ich stehe so gut wie nie in meiner Wohnung, seit sechs Jahren weiss ich nicht mehr, wie es im Fenster aussieht!“, schrieb Yemina, eine der Verschwundenen, verschwunden, auf dieselbe Art, wie ich verschwunden bin, die diese Leben postmortem lebt, Tag und Nacht und Tag und Nacht, denn der Tag eines Verschwundenen dieser Art hat keinen Anfang und kein Ende. Es gibt kein Ausfliegen und keine Heimkehr, es gibt kein Vorher und Nachher, nur noch das zu Späte, das Posthume. Niemals, wirklich niemals legt man sich bei dieser Erkrankung regelmässig abends schlafen. Das Dunkel, das in einem gesunden Körper den Schlafprozess anregt, damit die Erholung stattfinden kann, jede Nacht aufs Neue, ist für diese Art von Verschwundenen kein Vorhang, kein Schutz. Der Verschwundene wacht in der Nacht und wacht am Tag, aber es ist eine seltsame, schizophrene Wachheit, glasklar und gleichzeitig zerreissend, schwummrig und voller unerträglicher Spannung. So sitzt der Verschwundene wie ein Adler auf seinem Firn, kann nicht teilnehmen, kann nicht ausscheiden, kann nicht Fliegen. Nur zusehen, wie ein Tag um den andern vergeht, während sein glanzloses Gefieder lahm am Körper herunterbaumelt, der schwächer und schwächer wird, je länger er liegt, je länger er nicht fliegen kann. Jede Nacht, die folgt auf einen inaktiven Tag im Bett, ist eine Niederlage, und jeder Tag, der folgt auf eine schaflose Nacht, gleicht einer Agonie und ist eine Qual. So bin ich eine Verschwundene, die nicht in sich selbst verschwinden kann, und die  zwei Zeugnisse erbittet, um zu sterben. *** Sie setzen voraus, dass jemand davon Kenntnis nimmt, dass ich in irgendeiner Form überhaupt da bin, zuerst einmal. Ich musste viele Jahre darauf aufmerksam mache, dass ich, dass wir so leben, und dass es diesen Zustand so gibt. Für eines der beiden Zeugnisse gab der Hausarzt neulich grünes Licht. Noch drei Wochen zuvor, hat er sich vehement geweigert, das Zeugnis überhaupt zu schreiben. Er hielt mich für einen viel zu vitalen Menschen! Wie kommt es wohl, dass er so schnell sein Urteil revidierte, im letzten Augenblick? Gab er meinem immer stärkeren Drängen nach, weil er vom Thema seine Ruhe haben wollte? Oder lenkte er ein, weil ich ein blutiges Beispiel brachte, die Tat, zu der eine solche Abweisung führen muss, es sei denn, ein Wunder passiert? Ich habe also eine schriftliche Bestätigung, dass mein Leben objektiv keine Würde mehr hat. Diese Bestätigung sagt noch nichts über meine tatsächlichen Chancen bei Exit aus, aber seit ich dieses Ja habe fühlt es sich für mich so komisch an. Das Ja macht mich traurig und enttäuscht mich ein kleines bisschen, vielleicht, weil ich mir doch gewünscht habe, dass mein Leben auch jetzt noch, in diesem Zustand, der Hoffnung wert ist? Ich selbst, ja, habe es schon lange verkündet; mein Leben, es ist hoffnungslos, so, zweiundzwanzig Stunden im Bett seit sechs Jahren, aber das Umfeld hat mir immer dagegen geredet. Ich habe geglaubt, dass sie mich anlügen, nicht hinsehen wollen. Aber jetzt, nun, da mir jemand bestätigt, was ich tatsächlich über mein Dasein weiss, fühle ich mich niedergeschlagen. „Sie trauen dir also nicht mehr zu, dass du die Liebe jemals wieder erlebst!“, fasste Dolly das Urteil auf ihre Weise zusammen. „Indem sie dir bestätigen, dass dein Leben keine Würde mehr hat, so, wie es ist, nehmen sie dir auch den Glauben auf ein Wunder. Dass Wunder, jemanden kennenzulernen, der dich liebt und berührt. Bis in deinen kranken Zellkern. Das Wunder, dass du plötzlich eine bessere Phase hast und mit einem Schiff das Meer bereisen kannst …. Sie teilen mit dir die Hoffnungslosigkeit und den Glauben, dass es für dich besser ist nicht mehr zu sein, obschon du doch oft so schön bist, Jeanne?“ – „Wie bitte!? Du meinst, die optische Ausstrahlung sollte in diese Entscheidung einbezogen werden? Ach Dolly!“ Ich lachte, weil Dolly wieder so etwas Dollyhaftes gesagt hatte. Dolly beurteilte alles nach dem nicht messbaren Grad der Schönheit, nach der Lieb und dem Zauber. „Jeanne, was ich meine ist: ich verstehe, wenn du die Motivation an diesem Weg verlierst. Denn dieser Weg ist nicht filmisch genug, das kannst du bei all deinem Pragmatismus nicht machen!“ – „Du meinst, dass ich deinen Weg gehen soll? So irrational, so blind? Gibt es denn keinen Mittelweg, Dolly, eine Aussicht auf einen versöhnlichen Abschluss, der all das Offenstehende und Ungelöste auflösen und frei machen kann?“ – „Für mich nicht!“ – „Ja, für dich nicht, Dolly! Für dich nicht, du verdammter Liebesclochard! Aber schau und höre nochmals, was uns Plath sagt: diese zuversichtliche Woge der Überschwänglichkeit, in der ich dir geschrieben habe, sank, wie Wellen es zu tun pflegen, zu dem Bewusstsein, dass mich weinen lässt, nur dies eine mal: so einen winzigen Bruchteil des Lebens leben wir! Was, wenn die Woge nicht auf immer flach ist, Dolly, wenn sie noch einmal Anlauf nimmt und du in ihr mitschwingst? Ja, du bist keine Zwanzig mehr, du bist dieses seltsame Baby-Girl im Körper einer reifen Frau, jetzt, diese Diva Dramedy-Taff, die das Drama, das sie heraufbeschwört, wahrscheinlich nicht überlebt. Aber und wenn doch; Dolly: so oft schon hast du es dann doch überlebt. Und dann hast du es wieder gesucht, wie ein Spurhund einen verlorenen Fingerring an jeder Strassenecke, das Drama, den Film, wieder aufliest. Was, wenn das Wunder noch einmal geschieht, und du Dolly wirst auferstehen, und aus dem schäbigen Liebesclochard wird eine herrliche Strassenblume, gefeit gegen alle Jahreszeiten und Schädlinge …?!““ Dolly erwiderte, selbst Plath, die in dreissig Jahren fünfmal soviel, so schnell und profund gelebt habe wie sie, Dolly und ich zusammen, habe sich getäuscht. Sie habe sich nur auf diese eine Woge verlassen und sei so von Woge zu Woge getrieben worden, wie in einem reissenden Strom. Und dann, am Ende, habe sie doch erkannt, dass sie diese Woge der Überschwänglichkeit ganz alleine geritten hatte. Und das Ende in der Fitzroy Road, das war diese Welle, die sie trocken zu Boden schlug, die ihren Film, einen der schönsten und lebendigsten, den es gegeben hat, überhaupt, brutal beendete. „Aber Plath’s Schiff, das war doch eine Conqueror, und die Woge sank und stieg  nach Plaths Stimmungen, die so mächtig waren wie Gezeiten!“ Fügte ich hinzu. ‚Vielleicht ist meine Liebe zur Verwandlung und zur Wildheit aus meiner kindlichen Sicht des Meeres geboren. Niemand brachte mir das Schwimmen bei. Es passierte einfach. Meine Mutter hatte mir und meinem Bruder verboten, uns Schwimmflügel oder Ringe auszuleihen, aus Angst, sie würden uns in tiefere Gewässer ziehen. Ein kleiner Junge kletterte aus seinem Reifen, schnappte danach, klammerte sich fest, und liess keinen ran. Eine plötzlich aufkommende Bise hob ihn in dunkleres Gewässer, er liess los und der ringförmige Lebensretter entglitt seiner Reichweite. „Ich hole ihn!“, sagte ich prahlerisch.’ „Ja, sie ist auf Wogen geritten, ohne überhaupt schwimmen zu können!“ In Dollys Stimme drang die grenzenlose Bewunderung für Sylvia Plath als Frau durch, während ich sie vor allem für ihre Gedichte bewunderte. Also kamen wir immer wieder auf sie zurück. Sylvia Plath liess uns das halbe Leben nicht los. Was hätte sie an meiner Stelle wohl getan? Sie, die alles Schwache und Kranke hasste?

      Wenn es Nacht wird, öffne ich die Tür zur Terrasse, damit ich das Bimmeln der Schafe höre. Ich will nie, dass das Bimmeln aufhört, weil sich dann in mir dieses Gefühl der Verlorenheit breit macht. Moskitos, Zimmermänner, Schaben, Nachtfalter und Ohrgrübler versammeln sich gegen Mitternacht an der Decke über meiner Lampe. Schwarze Fliegen belagern mich, ich denke sie ernähren sich von meinen kranken Bakterien. Wenn ich jetzt noch ein wenig losziehe? Mein Traum wäre, wie Dolly sagte, eine Kreuzfahrt gewesen auf einem riesigen Schiff für mich ganz allein. Dieses Schiff wäre vielleicht einmal ein grosser Luxuscruiser gewesen, in dem auf fünfzig Stockwerke zwanzig Esshallen, Sportstudios, Kinosääle, Kletterräume, Thermalbäder, Discos, Bungee Jumping Vorrichtungen, künstliche Parkanlagen und alles weitere verteilt gewesen wäre. Aber dann; aus irgendeinem Grund hätte man all diese Einrichtungen abgeräumt und herausgerissen und das leerere Schiffsgehäuse einfach so auf See geschickt; ein Geisterschiff, quasi, für Leute, die keinen Geschmack mehr an jeglicher Unterhaltung finden. Die so komisch drauf sind, dass sie für ihr Ticket nichts anderes als Meersicht, eine Koje, leere Ballsääle und täglich einen halben Laib Brot und Kaffee begehren. Ein abgebranntes Schiff. Mit dem wäre ich gerne ins Meer gestochen. Aber solche Angebote gibt es in dieser Welt nicht. Und vermutlich müsste ich dafür noch mit einem Zertifikat beweisen, dass ich keine schlummernde Infektion, kein lebendiges Immunsystem und keine Geschichte mit organischem Bezugspunkt habe. Die Bäume haben sich in schwarze Rampen verwandelt, in Ungetüme, die mit langen moosigen Armen das Wasser streicheln. Während ich langsam vorwärts paddle, höre ich das Zirpen der Grillen, das Blubbern von Fröschen, vereinzelte Nachtvögel. Das Bimmeln der Schafe verlässt mich nie, es wird nur leiser. Die Luft ist feucht und samtig, ich paddle durch eine melodiöse Allee rieselnder Trauerweiden, ich könnte in Alabama sein, so verschlungen und märchenhaft zieht sich das Ufer hin. Irgendwo an einer ruhigen Stelle lasse ich meine Paddel los und rolle mich langsam auf den Rücken. Ich liege da mit ausgestreckten Armen und schaue zum Himmel, diesen goldenen Punkten und fallenden Sternschnuppen, die mein Leuchtpilz an die Gipsdecke über mir projiziert. Dies ist wahrscheinlich meine dritte Position an diesem Tag. Und weil ich meinen Brustkorb dem Himmel zugewandt habe, überkommt mich diese Melancholie und Schwere, die einen bei zurückgelegtem Nacken gerne heimsucht. Was ist das für eine tiefe, unstillbare Sehnsucht, die den Menschen antreibt? Ist es das Abenteuer? Ist es die Ferne? Ist es die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem man die Ferne als Heimat erleben kann? Ist es die Suche nach sich selbst? Oder doch nur der Hunger nach Gold? Aus dem Augenwinkel sehe ich einige beleuchtete Häfen, weit weg, wo der Fluss ins offene Gewässer mündet. Ich sehe riesige Containerschiffe, Tanker und auch eine Reihe gestaffelter Militärschiffe. Es sind fensterlose, turmhohe Kasten, die mir Angst machen, mit Drähten umkränzt und von schwarzem Rauch umgeben. El Dorado, denke ich, kann es nicht sein. Das haben sie längst geplündert. Ein Ziel, das sich immer in der gleichen Entfernung zu ihrer Position befindet, etwa. Das hinter ihren Stirnen blüht, wie damals, hinter der Stirn Aguirres. Aguirres Furcht vor den Gefahren des Dschungels nahm wohl halluzinatorische Züge an, je länger er auf den Nebenflüssen des Amazonas vor sich hin schiffte. Er verpulverte wahllos seine Kanonen. Seine innere Finsternis übertrug sich auf die Truppe, die ihnen unbekannte Umgebung, von der sie vermeintlich meinten, sie sei es; das Feindliche, Finstere. Und nun gibt es diese innere Finsternis noch immer, denn es gibt immer noch Meuterei, immer noch Eroberungsfeldzüge, das Feindliche und Finstere hat sich eine untilgbare Position im innern des Menschen verschaffen, es ist nicht auszulöschen, nicht zum Verschwinden zu bringen. Überall auf der Welt bricht es in Schüben aus, sorgt für Zerstörung und Schmerz. Aber ich kenne mich in diesen Gegenden nicht wirklich aus, ich gelange nicht wirklich bis an diese Orte, daher kann ich nicht mehr darüber sagen. Ich weiss oder habe gehört, dass irgendwo dort, Richtung Osten, mehrere Millionen Menschen genau jetzt auf der Strasse sind, kein Dach mehr über dem Kopf haben, weil ein Feldherr diesem wahnsinnig antiquierten Glauben anhängt, ein kleines Würstchen namens Mensch könne Erde besitzen. Ein kleines Würstchen, das ein einziger Windstoss zerreiben kann. Sie haben die Jungs rekrutiert aus den ärmsten Gegenden des riesigen Landes. Als der erste von ihnen starb, gab es noch ein staatliches Begräbnis mit einer Medaille. Seither fallen sie. Ich habe gehört: man nennt sie Kanonenfutter. Ist das Pulver, das zu Asche wird? Asche, die verschwindet? Aber wer so naiv redet, wie ich, in so komplexen Dingen, wie Krieg, der wird belacht. Und es sind auch nicht Dinge, über die man redet, sondern in denen man handelt. Wer weiss, vielleicht handeln sie ja eines Tages umsichtig. Aber bis dahin: wer will da nicht lieber fliegen?

Mein El Dorado ist diese tiefe unstillbare Sehnsucht, die nach der Weite, nach einem Menschen sehnt, mit dem man diese Weite erleben kann, nach dem Reden, das sich in Kreisen fortbewegt, Flügelschlägen gleich, das sich der Versöhnung nähert, den Kampf herausfordert, der Versöhnung, der Nähe zuliebe, nach den Bruchteilen dieses Lebens einer überschwängliche plathschen Woge gleich, die einen weinen machen, nach dem Meer, das ich nie wieder sehen werde, nach einem Schiffchen, das gross genug ist, wenigstens für einen meiner Träume, um auf dem Meer zu segeln, das ich nie wieder fühlen werde um meinen Leib. Aber wenn ein grosser Traum nach dem andern zerplatzt, ist es vielleicht besser, auf den kleinsten der Träume zu verzichten, ihn unberührt lassen, weil im eigenen Wollen etwas Ungutes drin liegt: eine Art fatales Zerstören. Die Dinge, die man ein klein wenig möchte, zu sehr zu vereinnahmen, weil man nicht vorsichtig, nicht zart genug will. Weil man begehrt! Würde Dolly entrüstet schreien. Ich liege rücklings auf dem Floss und visualisiere die Sterne, neckische kleine Stiche, die sich langsam zu Myriaden von Pünktchen formieren. Ich denke ans Verschwinden und die Verschwundenen. Ist mir irgendwann mal im Leben etwas verschwunden? Erstaunlich, mir fallen nur die Socken ein, die Scheren, die Kaffeelöffel und die Schlüssel. Einmal hatten wir ein Amselnest, in der Dachrinne über meinem Kinderzimmer, etwa eine Woche lang, ja. Aber dann war es verschwunden. Mein Schulfahrrad, die pinkige Julia, war eines morgens verschwunden, dann ging ich zu Fuss mit dem schweren Geschichtsbuch im Rucksack zur Schule, doch, später, als wir Geschichtsstunde hatten, war mein Geschichtsbuch verschwunden. Mehrere meiner Halstücher verschwanden. Ich weiss nicht, ob es der Wind war, der sie mir entriss, als ich auf Jakobli, meinem zweiten Schulfahrrad zum Schulhaus düste, frühmorgens. Die Kälte brannte auf der Haut, es war noch halb dunkel, ich sah, dass mein hinteres Velolicht verschwunden war, ging zum Kaffeeautomaten in der Aula, beobachtete, wie ein Fünfzigrappenstück im Schlitz verschwand, worauf ich schnell den wässrigen Kaffee kippte. Ich musste mir ein neues Geschichtsbuch anschaffen, für Fünfzig Franken, und das haben wir dann wieder da aufgeklappt, wo wir stehen geblieben waren, in der letzten Lektion. Das war eine Stelle mit viel Kriegsmaterial, vielen Schlachten, mit Preussen, Napoleon und dem Versailler Vertrag. Aber ich erinnere mich nicht, dass wir in diesem Buch jemals die verschwundenen Menschen durchgenommen haben, die auf den Todesmärschen verschwunden sind oder auf der Flucht über die Pyrenäen, die verschwundenen Städte und Dörfer des Sudetenlandes mit ihren verschwundenen Kindern, die etwa Fünfunddreissig Tausend Desaparecidos, die zwischen Neunzehnhundertsechzig und Neunzehnhundertneunzig verschwunden sind, die verschwundenen Massengräber von Srebrenica, das Los der verschwundenen Indigenen in Nordamerika oder die Verschwundenen des Algerienkriegs. All das und viel mehr haben wir nicht durchgenommen, immer nur geschichtliche Fakten, nie die Menschen. Vielleicht habe ich darum im Geschichtsunterricht auch immer geschlafen!? Diese Finsternis, die nicht zu tilgen ist im Menschen, sie wird weitere Verschwindende hervorbringen, in diesem Augenblick und im nächsten. Und erst viel später, wird sich einer, der Zeuge war, der davon gekommen ist, vor die Welt hinstellen und sagen: „Ich habe ihn und sie gesehen. Allein, hilflos, dem staatlichen Schutz entzogen, auf sich gestellt, verzweifelt. Aber ich konnte nicht eingreifen, ich wusste nicht, wie.“ Man wird klatschen über diesen wichtigen Zeugen in den ringartigen Säälen bei der UNO, den Friedensäälen und Nobelpreissäälen, und man wird sich vornehmen, es bei nächsten mal besser zu machen, das heisst, man schwört, es gar nicht so weit kommen zu lassen, und doch wird es wieder Unschuldige geben, die für die Verfinsterten kämpfen und ihr Leben lassen müssen. Flosse geraten in die Quere von Booten, Boote werden gekentert von Schiffen und diese versenkt von Kriegsschiffen.

Langsam paddle ich wieder zurück, gerate in einen stillen Nebenfluss mit tiefen Bäumen, hohem Ufergras, langsamer Strömung. Und plötzlich sehe ich Dolly rücklings auf einem morschen Stück Holz an mir vorbei schwimmen. Sie trägt ein weisses Swingkleid, bestickt mit hell rosa Blumen, wahrscheinlich aus Tüll, das über den Holzrand ins Wasser hinab fällt und leise rieselt. Im ersten Augenblick halte ich sie für Ophelia, dann für eine Seerose. Schliesslich aber sehe ich, dass es Dolly ist, denn ich erkenne sie an ihrem klagenden und maulenden Ton. Überrascht rufe ich: „Aber Dolly, mit wem sprichst du und was hast du da?“ Und sie: „Ich habe ein Wassernilpferd gefangen. Ich will es auf mein Schiff heben und Heim nehmen, aber es gelingt mir nicht!“ – „Du meinst, das Nilpferd geht mit dir wohin es will?! Das erinnert mich an den alten Mann und das Meer.“ – „Kenn ich nicht.“ – „Er hatte einen riesigen Fisch gefangen, aber brachte ihn nicht in sein Boot. Der alte Mann konnte den Fisch nicht loslassen, und so war er ihm ausgeliefert, der Fisch zog das Boot mit dem alten Mann ins Meer hinaus …“ – „Aber er konnte ihn nicht loslassen?“, ruft Dolly und liess die die Leine etwas lockerer. „Ich glaube nicht!“ – „Warum nicht?“ – „Das musst du mir sagen!“ Dolly ist in einer komischen Stimmung, ich habe sie schon für verschwunden gehalten, endgültig verschwunden, seit dem letzten Telefon, dem mit der Ewigkeit und dem Kofferpacken. Nun richtet sie sich plötzlich auf ihrer Plache auf, legte den Lauf einer Magnum 357 auf mich und schreit: „I am the Queen of the Conqueror!“ Sie kippt, weil das Nilpferd zu schwer und sie, Dolly, zu leicht ist, sie und landet im Wasser, worauf ich mich vorbeuge und sie auf mein Floss ziehe. Ich bereue es sofort, denn erst jetzt, wo Dolly wieder weint, fällt mir auf, dass ich sie vermutlich aus einer Filmszene gerissen habe, aus der Titanic vielleicht. Dort gibt es diese unglaublich kitschige Szene, in der Jack und Rose sich an den Mast des Bugs lehnen, weit hinaus, mit ausgestreckten, übereinandergelegten Armen, so als würden sie los fliegen. Die Plache, das ist Dollys Schiff, the Conqueror, Das Nilpferd ist Dollys neuer Leo. Und wahrscheinlich würde sie innert Kürze die Szene von Jack und Rose auf ihrer Conqueror nachspielen, wäre nicht ich hinzugekommen, um sie zurück in die bittere Realität zu holen. Da schafft es Dolly einmal wieder ihrem eigenen brackigen Film ein Schnippchen zu schlagen, aber dann komme ich und mache den Spielverderber.

„Wohin gehst du?“, fragt Dolly niedergeschlagen. „Ich weiss es, ehrlich gesagt, nicht. Und du?“, frage ich zurück. Dolly zuckt mit den Schultern, ehe sie sagt: „Hast du jetzt dein Zeugnis?“ – „Immer noch nur eines. Das über den Körper.“ – „Lass mal sehen!“ Ich übergebe Dolly den Brief. Sie setzt sich damit ans Ende des Flosses, liess ihre Beine ins Wasser baumeln und liest: „Ärztliches Zeugnis, g.93.3, seit vielen Jahren als entzündlicher Prozess des Zentralen Nervensystems mit chronischer Muskelschwäche, generalisierter Schwäche, Ganzkörperparästhesien, wechselnden grippalen Symptomen, Nausea, Kreislaufprobleme, Reizsensitivität, Dysautonomien des Nervensystems, schwere Fatigue, chronische Suizidalität, rezividierende reaktive Depression als Folge der sozialen Isolation, fehlender Therapieerfolg mit alternativen ….“, Dolly liest vom Zettel ab, als würde sie einen Liebesbrief vorlesen. Befindet sie sich etwa in der Schlussszene La Notte, wo Lidia Giovanni den Liebesbrief vorliest, den er einst an sie schrieb, seine eigenen Zeilen aber nicht mehr erkannte? Eine der schönsten Schlussszenen eines Liebesfilms überhaupt, das muss sogar ich sagen. „…aktuell: aktuell ist Jeanne bis zu Fünfundachtzig Prozent im Bett. Sie versucht sich immer wieder aufzuraffen und vor allem gewisse Tätigkeiten kreativer Art (Schreiben) zu tun. An einem guten Tag kann sie sechzig Minuten auf sein, manchmal auch nur dreissig oder zehn. Prognose: aufgrund des Verlaufs ist die Prognose sehr ungünstig. Zuletzt ist auch eine Teilnahme am sozialen Leben fast unmöglich geworden, was sich auch auf die schlechter werdende psychische Gesundheit auswirkt. Bei der Patientin bedingte die Änderung der psychischen Gesundheit ein minimales physisches Funktionsniveau, was bis heute fast unmöglich geworden ist. Information: Jeanne S. ist zu Hundertprozent urteilsfähig. Rezept: ich bin aktuell bereit das Rezept für Pentobarbital auszustellen ….“ – „Wer hat das wohl geschrieben?“, frage ich tonlos. „Dein Arzt.“ – „Über wen?“ – „Über dich!“ Dolly lacht beinahe. Mir fällt auf, dass Dollys Lachen seit langem aus Dollys Gesicht verschwunden ist, ohne, dass ich es gemerkt hätte. Dolly lässt das Zeugnis ins Wasser gleiten, schaut dem Zettel beim Schwimmen zu und will wissen: „Was ist damit gemeint: ‚bei der Patientin bedingte die Änderung der psychischen Gesundheit ein minimales physisches Funktionsniveau, was bis heute fast unmöglich geworden ist?“ – „Was verstehst du am Satz nicht?“ – „Ich verstehe alles daran nicht!“ – „Es bedeutet, dass eine Voraussetzung in deinem Leben erfüllt sein muss, damit eine weitere Voraussetzung, die darauf aufbaut, erfüllt werden kann.“ – „Verstehe ich nicht! Und glaube ich nicht!“, ruft Dolly. Und während ich ihr die Paddel in die Hände drücke, seufze ich: „Lass uns noch einen Koffer packen …darf ich anfangen?“ Dolly nickt. „Ich packe in meinen Koffer die Sonne!“ – „Ich packe in meinen Koffer Glöckenweh!“ – „Nein, so geht das nicht … du musst wiederholen, das ist ein Gedächtnisspiel, verstehst du! Fangen wir noch mal an. Ich packe in meinen Koffer eine Tafel Schokolade.“ – „Ich packe in meinen Koffer Glöckenweh …. eine Tafel Schokolade …“ – „Neeein … Dolly!“ – „Achso. Eine Sonne … warum willst du gerade die Sonne mitnehmen? Ist sie nicht zu unbeständig?“ – „Ist dir mal aufgefallen, dass von allen schönen Dingen, die ständig aus deinem Leben verschwinden, die Sonne etwas vom Einzigen ist, das immer wieder zurückkehrt?! Immer wieder! Ich packe darum in meinen Koffer die Sonne, eine Tafel Schokolade, Glöckenweh, weil du das so willst, obschon ich nicht weiss, was ich von ihm halten soll und Hansaplast Sohlenpflaster …“ Dolly lacht. „Ich packe in meinen Koffer Sohlenpflaster …. Aber warum soll ich denn, herrgottnochmal, all das in meinen Koffer packen!?“ Dolly kommt nicht mehr weiter. In ihrem Leben gibt es eben nichts anderes mehr als ihn, obschon er sich darüber mittlerweile richtiggehend ärgert, sie verachtet, sie verspottet, weil sie immer noch an ihm hängt. Sie ist eben ein echter Liebesclochard geworden, ein wertherscher Narr, eine armselige Gestalt. „Dolly!“, sage ich, „was wäre, wenn du deine liebsten Filmszenen oder deine liebsten Liebeszene in den Koffer packst?“ Dolly überlegt. „Dann packe ich in meinen Koffer Ingrid Bergman und Gregory Peck in der Bücherzimmerszene im Film Spellbound. In dieser Szene passiert etwas Fulminantes, Jeanne!“ – „Ja?“ – „Ja! Kaum haben sich Gregory Peck und Ingrid Bergman umarmt, öffnen sich im Flur alle Türen. Hinter jeder Tür, die sich öffnet, befindet sich wieder eine Tür, die sich wieder öffnet. Die Musik von Selznik Rozsa sprengt die Räume, eine gleissende Helligkeit läuft wie eine Feuerschnur durch die Gänge, surreal und sakral ist diese Szene, Jeanne, ich habe sie mir hundertmal gesehen.“ Ich lächle. „Gut, du packst Spellbound in deinen Koffer. Dann packe ich die Sonne, Glöckenweh, eine Tafel Schokolade, Hansaplast Sohlenpflaster, Spellbound und den Fluss in meinen Koffer.“ – „Den Fluss kannst du unmöglich in einen Koffer verfrachten … das ist dir doch klar?“, meint Dolly und dann: „Wenn es mich nicht mehr gibt für ihn, dann will ich nichts mehr, weißt du. Aber warum das? Ich erkenn mich im Spiegel, ich fühle, ich bin bei mir. Und dennoch will ich mein ganzes Sein, das ich in mir habe, ohne ihn nicht mehr. Da wären ich und mein Sein, da wären andere Menschen, da wärst du ….“ Sie ist wieder bei ihrem eigenen Film gelandet und beginnt zu schluchzen. Ich werfe einen hektischen Blick um mich und fordere sie auf, ein wenig schneller zu paddeln. Ich bin mittlerweile zu schwach dazu. „… aber in dieser tiefen Geschmacksverirrung, in der ich stecke, will ich lieber nichts mehr. Ich kann nichts geben, nichts und niemandem, weil alles in mir für ihn ist! Sag, was hat dieses Schaf, was ich nicht habe?! Was ist an diesem Schaf besser, als es an mir ist?! Was ist schöner, aufregender, liebreizender, leidenschaftlicher, verspielter, verwegener, gewagter? Wer bin ich, dass er mi- …“ Bei diesem Satz stehe ich auf und gebe Dolly einen Schubs, worauf sie ins Wasser gleitet und im dunklen, warmen Sog des Untergrunds verschwindet. Das weisse Kleid aber bläht sich auf und schwimmt auf dem Wasser wie eine Seerose. Habe ich sie jetzt ertränkt? Mein Leben ist immer noch schwer genug, auch ohne die dreiste Dolly. Ich stelle mir vor, wie sie noch ein paar überschwängliche Wogen nimmt, dann von einer Welle hinabgezogen wird. Vielleicht löst sie sich auf in ein Blatt, in einen Fötzel, Eselsohren, einsame Blattstiefe, in Punkte von Humus, in Plankton. Sie ist schon fast verschwunden und als Leib schon ganz, da taucht hört sie plötzlich die sanftesten Stimmen nach ihr rufen, helle animierte Wesen, die wie Lichtblumen unter Wasser explodieren. Das helle Blau des Himmels durchdringt den Grund mit Pfeilen von Goldstaub. Es schneit, und in diesem riesigen Sprudel der Ausgelassenheit, Ruhe und Freude, verschmelzen die Stimmwesen, unter denen sich Dolly befindet, wie Ketten ineinander. Schleier durchziehen den Raum, in dem sich wiederum Raum auftut und wiederum Raum, (ein bisschen wie in Spellbound), der luzid helles, samtig weiches, lebendig wohltuendes Sein bedeutet. Dolly ist in diesem Sein enthalten, frei und glücklich, aber doch nicht als sie selbst, nicht als Möchtegernfilmstar und Liebesclochard. Aber sie hat ihren Körper verlassen und ist jetzt in dieses Sein eingegangen, in dem es wimmelt von dem, was sie fälschlicherweise  in der männlichen Erotik gesucht hat. Aber das ist viel zu kurz gesagt. Dolly-Liza-Dramedy-Taff-Baby-Girl badet in einer Essenz, die alles enthält, die vollkommen ist. Und wüsste sie, dass es da draussen noch ein Leben gibt, wo die Grenze zur Haut immer ein Fehlen ist, ausser es ist einmal eine Liebe da; sie würde nicht zurück wollen, ist sie doch verschmolzen, ein Baby. Und wie bei allen unwirklich schönen Dingen, wacht sie dann auf. Zwar auf einer Tragbahre in der Notaufnahme eines Spitalzentrums, wo ihr jemand links und rechts eine Ohrfeige klatscht. „Glöckenweh!“, schreit Dolly, schlägt erschrocken die Augen auf, aber sie sieht nichts ausser verschwommene Grautöne. Sie verliert das Bewusstsein erneut, spürt aber die weltliche Hektik rund um sich. Etwa vier Leute sind im Raum, die darüber debattieren, welche Substanz, man ihr spritzen soll. Dolly hebt den Kopf an, um etwas ungemein Wichtiges zu sagen, wird aber wieder ohnmächtig. Als das gespritzte Antihistamin anfängt zu wirken und die Zunge zurück schwillst, die Wülste über den Lidern kleiner werden, öffnet Dolly die Augen und schreit: „Ich habe solche Bauchschmerzen!“ Sie greift nach der Hand eines Pflegers und legt sie sich auf den Bauch. Dieser zieht die Hand verlegen weg. Tatsächlich hat das Menstruationsblut das weisse Nachthemd und das Laken innert weniger Minuten rot gefärbt. Dolly wimmert: „Ich hab Bauchweh! Jemand muss meinen Bauch berühren!“ Und wieder greift sie wahllos nach Händen und legte diese auf ihren Unterbrauch. Und wieder ziehen alle die Hände weg, tief verlegen. Niemand will Dollys Bauch streicheln, der in tausend Nadeln sticht, so sehr, dass sie das Schmerzmittel eingenommen hat, auf das sie bekanntlich allergisch ist. Die Kolliken haben wenigstens zur Folge, dass der Blutdruck sich allmählich wieder fängt, aber der Schmerz ist nur mit einer Morphinvorstufe zu stillen. „Und auf einmal habe ich wieder gesehen!“, meint Dolly am nächsten Tag überrascht. „Und ich kam mir vor wie Maria Schell, als ihr Gary Cooper die Augenbinde abnimmt …. Im Galgenbaum, weißt du. Kennst du den Film?“ Ich schüttle den Kopf. „Schau, sie hatte sich beim Überfall die Augen verletzt, ich glaube, das zu starke Sonnenlicht, das ihre geöffneten Augen während ihrer Ohnmacht flutete, hatte sie erblinden lassen. Oder es war der Überfall selbst, sie wurde blind, weil sie blind hier her gekommen war in dieses brutale Goldgräber-Kaff, blind vor Güte, meine ich ….“ Dolly greift nach meiner Hand, sie scheint einen Moment lang die Alte, die Witzige und Versponnene, sie hat Glöckenweh über ihrer Anaphylaxie kurz vergessen. „Und dann hat er ihr diese Augenbinde umgehängt. Zuerst war fast ihr ganzer Kopf verbunden. Wochen vergingen, sie lag da und hörte ihn in der Hütte hantieren. Sie hörte seine Stimme, öffnete den Mund, wenn er ihr etwas Suppe gab, sie vertraute ihm voll und ganz. Sie war ihm ausgeliefert, Jeanne! Und irgendwann war es so weit, da beugte er sich über sie und nahm ihr die Augenbinde ab ….. und ihre blauen Augen …. Jeanne … ihre blauen Augen ….“ Dolly fängt an, zu weinen. „Dolly, was willst du mir sagen?“, frage ich etwas ungeduldig. „Nichts!“, jault Dolly auf. „Ausser, dass ich ein Leben lang eine Augenbinde tragen will, wenn es nichts mehr zu sehen gibt für sie, meine Augen, an dem ich mich erfreuen kann. Wie Maria Schell will ich erblinden, und nur, wenn ich in ein ehrliches, schönes Gesicht blicken kann, das sich mir zuwendet, dann soll man mir die Augenbinde abnehmen. Er, der mir das Augenlicht wiederschenkt, soll mir die Augenbinde abnehmen. Aber als ich gestern die Augen aufschlug, in dieser Notaufnahme, merkte ich sofort, dass ich nicht sehend geworden war, Jeanne, dass es sich nicht lohnt, zurückzukehren, von dort, wo du mich hingeschickt hast, weil du mich nicht auch noch erträgst. Es ist besser, Jeanne, ein Leben lang mit einer Augenbinde umherzugehen, wenn es die Liebe für jemanden nicht gibt. Es ist besser, Jeanne, blind zu bleiben, als als Geächteter das verlorene Augenlicht durch ein Bedecken der Augen gesund zu pflegen. Ausser im Film, Jeanne! Da ist es anders!“ Ich lächle etwas. „Da hat Elisabeth die Liebe zu Doktor Frail gewonnen, in dem Moment, in dem er ihr die Augenbinde sanft löste und sie wieder sehen konnte! Du denkst, du hast deine Vorhänge abgenommen, weil du irgendetwas siehst, du denkst, dass du jetzt diese Barmherzigkeit erlebst? Dass irgendjemand sich dir zuwendet? Du glaubst, du findest so einen Zeugen, einen besseren als der, der diesen Wisch geschrieben hat über dein Sterben? Ach, Jeanne d’Orléans, meine grosse, arme Kleine!“ Ich nicke verbissen.
Nun muss ich unbedingt die Position ändern, indem ich mich langsam nach links rolle. Ich muss dringend etwas schlafen, obschon ich mich davor fürchte. Schlafen bedeutet Verschwundengehen, es bedeutet Loslassen und im Dunkeln abtauchen. Seit über vierzig Jahren versuche ich es, und seit genau so langer Zeit fürchte ich es. Aber in den letzten Jahren habe ich festgestellt, dass der Schlaf der weiche Zustand meines Daseins geworden ist, und der Wachzustand der harte Daseinszustand. Und seither fürchte ich den Schlaf nicht, weil er mich von mir fortholt, weil er mich in eine ungewisse Sphäre versetzt. Ich fürchte ihn, weil ich noch immer jedes Mal wieder aus diesem Schlaf erwachen musste. Und dieser Moment, diese Stunden, wenn ich erwacht bin, sind so hart, wie ich es mir nie hätte träumen lassen, dass es sie gibt. Es sind Stunden, in denen ich in einer einzigen Position daliege, die Hände verkrampft, mit dem Fuss einen irren Takt schlagend. Ich atme kurz, weil die Brustmuskeln das Gewicht des blossen Daliegens nicht tragen können, ich denke an meine Situation und Ausgangslage, die mich würgen macht, weil erwachen bedeutet, lebendig zu werden, und das geht nicht ohne wahnsinnige Schmerzen, wenn der Körper in einem pathologischen Winterschlaf steckt, in einem Schraubstock, der heiligen Jungfrau, jeden Morgen aufs Neue. Also versuche ich etwas zu visualisieren, etwas zu denken, das den Schwächeschmerz nicht steigert. Ich versuche Dinge zu denken oder vor mich herzusagen, die weich genug sind, dass ich sie emotional und physisch ertrage. Finde ich sie noch, kann ich sie noch irgendwo ausgraben, Gedanken und Dinge, die weich genug sind, so dass sie mich nicht strangulieren? Es sind meine Zeugen! Nur sie können meine Zeugen sein; die Zeugen meiner endgültigen zersetzten Entkräftung: Bäume und Wiesen! Sage ich also. Schafe und ihr Bimmeln. Winde, Vögel, Schmetterlinge, Spinnweben! Und imaginäre: Wasser, Bäche, Schatten über Meertiefen, ein Feld und weitere Landstriche, verborgene, verschlungene Pfade, Highways, die sich stramm ziehen unter der prallen Sonne, einsame Hütten, Hölzer in ihrer unterschiedlichsten Form, morsche Zäune, die auseinanderbrechen, Pilze im Moos und seltsame Lichter an den Füssen der Berge, Geräusche aus der Erde, Insekten, Hummeln, Eidechsen, Düfte von Rosmarin, Meersalz, Tang und der Schmelze, die schlenkernden Flügel der Vögel, die Transformation der Wolken, die Farben des Himmels, die mich mit dieser Wehmut bestürmen, die ich hier drinnen, in meinem Käfig, in Bauchlage, vergessen habe, der Fluss und sein sandiges Ufer. Das ist die Form von Gold, die sich mit der Sprache meines Hungers deckt. Das sind die Visualisierungen, die noch weich genug sind für meinen Körper. Und doch frage ich: Wer bin ich und was ist geschehen, dass ich hier nicht in Gold verwandelte, was ich berührte?!

(4.7.22, es wäre ein zweiter Teil vorgesehen, aber ich denke, ich schaffs nicht mehr)

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