Schlusskapitel_Lockdown, Auszug

…   Dass er mein Gutachten nicht schreiben kann. Hat Doktor Maus gesagt. Und ich: Warum jetzt auf einmal nicht? Vor einem Monat hat er es noch gekonnt. Doktor Maus wirkte ungehalten, schroff. Dass das ja doch ein Psychiater erstellen muss. Er nicht weiss, was er darin schreiben soll. Wenn es nur das ist … da kann ich ihm ja ein wenig nachhelfen. Habe ich gesagt und setzte mich in meinem Bett auf. Alles was er tun muss, ist, meine körperliche Unheilbarkeit in eine psychische uminterpretieren! Die Tatsachen professionell verdrehen! Ob man das so schwer versteht? Ob das so schwierig ist, haha? Die unwissenschaftliche Annahme vom Körper, der als Konfliktbühne für Unterbewusstes hinhält, ist noch lange nicht aus der Welt. Er, Doktor Maus, kann schreiben: es ist ihm schleierhaft, wie er mit einer so exazerbierten Persönlichkeit, wie sie Frau Stürmchen aufweist, überhaupt arbeiten soll. Doktor Maus nuschelte wieder. Er weiss nicht, wie all diese Symptome einordnen. Sagte er. Ich hab verstanden. Aber er kann sie ja nur abschreiben. Von meinem Fragebogen, dem Primer von Fatigatio! Habe ich ausgerufen. Was kann er da schon falsch machen?! Man wird ja nicht mal hinterfragen, ob diese Symptome tatsächlich mit dem Primer für die Krankheit übereinstimmen. Sowas interessiert hier niemanden. Hier geht es nicht um Wissenschaft, nicht um Wahrheit. (denn Wissenschaft ist nach Luhmann Wahrheit) Hier geht es um Stümperei, verstanden? Ja und? Hat Doktor Maus gesagt. Was: „Ja und?“ Habe ich ungeduldig ausgerufen. Und auf einmal kam ich in Rage.

 

„Gottverdammt! Ich bin austherapiert!“, rief ich und sprang (also fast und natürlich nicht ohne grässliche Ohnmacht) vom Bett auf. „Schreiben Sie: die Patientin kann aufgrund ihrer Immobilität keine therapeutischen Termine ausser Haus mehr wahrnehmen. Sie hat unzählige Therapien von Gesprächstherapie über CBT bis zu Graded Exercise Therapy gemacht, die nichts an ihrer hartnäckigen Anpassungsstörung verändern konnten. Auch das Weltbild der reiferen Patientin entspricht ganz der Borderline Persönlichkeitsstörung vom Typ emotionale Instabilität: krankhafter Selbstbezug, Impulsivität, kindliche Abhängigkeit und primitives Schwarz-Weiss-Denken. Sie können schreiben: Obschon sie zwischenzeitlich in der Selbstreflektion eine gewisse Verbesserung erzielte, ist die Patientin seit einigen Jahren wieder in ihr altes primär-primitives Denkmuster des Schwarzweiss zurückgefallen und fühlt sich, trotz all der Hilfestellungen, die man ihr über die vielen Jahre bot, nur in ihrer narzisstisch empfundenen Kränkung bestätigt; von allen abgelehnt worden zu sein. Das könnten Sie doch schreiben, oder?“ Ich fing an, in meinem Schlafzimmer im Kreis zu gehen. Dabei blickte ich ab und zu nach Doktor Maus, der apathisch auf dem Stuhl sass und nur traurig mit den Schultern zuckte. Ich hätte ihn echt gerne geohrfeigt.

„Nana! Schreiben Sie doch, dass die Patientin aufgehört hat, sämtliche Autoritäten zu respektieren und dementsprechend, gemäss ihrem vereinfachten Weltbild, für ihr eigenes schulisches, berufliches und künstlerisches Versagen einen Sündenbock sucht! Und auf dieser Suche nach einem Sündenbock ist ihr jedes Mittel Recht! Am ehesten aber heisst dieser Sündenbock Mann! Er ist es, der die zeitlebens leistungsschwache und hinfällige Frau dazu gezwungen hat, nach den kulturellen Spielregeln und Maximen eines kalten Autokraten zu tanzen. Dieser Autokrat ist ein Mann und Barbar, doch war er einmal ein Gott, der die Frau auf Händen trug und ihr alle praktischen und lösungsorientierten Probleme abnahm, damit sie sich auf ihre Lieblingsbeschäftigung, die Hingabe an ihn und das schöne Nichtstun konzentrieren konnte. So verdrehte und verdreht die Patientin noch heute die Tatsachen nach ihrem Gutdünken. Schreiben Sie! Der Plan ging jedoch schief …“ Ich ging im Kreis, hielt inne, warf einen Blick auf Maus und hielt den Finger in die Höhe: „Schief!“, rief ich zornig.

„Und seither degradiert die Patientin ihren Ernährer als blossen Sprücheklopfer und gefühlsmässig verkappten Neanderthaler. Sie fühlt sich als Opfer par Excellence eines patriarchalischen Herrschaftssystems, das es bei uns nicht mehr gibt. Und hält gleichzeitig an einer überalterten Frauenrolle fest, die sich schamlos Privilegien herausnimmt. Extrawürste, sozusagen. So ist Frau Stürmchen eine hochsensible Frau, mit einem zu zarten Sensorium für diese Welt ausgestattet, die ihr hässlich und ohne Verlockungen vorkommt, genaugenommen fühlt sie sich wie eine Perle, die man vor die Säue geworfen hat, ohne die Einsicht, dass es die Säue sind, dank der die Perle Perle sein kann. Oh, leistungsverblödete, phallozentristische Welt, du hast mich verloren! Schreiben Sie: Wegen ihres niedrigen IQs und der Unfähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, sind Menschen mit dieser Störung anfällig für krude Verschwörungen, Radikalisierungen, Pauschalurteile und jede Form von Extremismus. Dies kann einem Therapeuten die Arbeit mit den Patienten verunmöglichen und ihn soweit an den Rand bringen, dass er den Patienten aufgeben muss. Schreiben Sie:“ Ich nahm den Befehlston eines Oberst Pinson an: „Ich sehe diese Patientin, als aufgegeben. Für die Misserfolge, die sie sich selbst eingebrockt hat, gibt die Patientin fadenscheinige Gründe an. Schreiben Sie:“ Ich streckte wieder den Zeigefinger aus. „Sie kann nicht länger leben in einer Welt, in der Thanatos Eros laufend besiegt. So wälzt sie ihre Suizidalität in einer Ausrede auf Andere ab, stellt ihre körperliche Nichtlebensfähigkeit als unumstössliches Faktum, als Drama dar: So ist der Finger das einzige Glied, dass die Patienten noch aktiv bewegen kann, eine Tatsache, die so nicht stimmen kann, wenn man bedenkt, dass sie gerade jetzt, in diesem Augenblick wie Kaiser Napoleon durch ihre Schlafstube geht. Schreiben Sie:

Die Übertreibung und Verkennung der Realität bezieht sich bei dieser Störung auf das Selbstbild, das Fremdbild und den Körper. Leute mit dieser Störung fühlen sich von aller Welt verarscht und spielen das verletzte Kind mit aller Überzeugungskraft, weil sie auch wirklich davon überzeugt sind, dass Andere für ihre Verletzungen zuständig sind und das Versagen nicht in ihren eigenen fehlenden Anpassungsleistungen gründet. Denn wie Sie wissen: nichts kann ein Borderliner schlechter tolerieren, als die Feststellung, dass seine Vorstellungen und Ideale die Welt einen Dreck bedeuten. Dass niemand auf seine Ideale wartet. Schreiben Sie: Wie alle Borderliner glaubt auch die alternde Patientin, sie sei auf der Welt, um geliebt zu werden. Wie ein Baby im Körper eines Erwachsenen, kann der Borderliner mit der Tatsache nicht umgehen, dass die Liebe des erwachsenen Menschen auf Kompromissen, Arbeit und Selbstaufgabe beruht. Schreiben Sie: Der Borderliner glaubt, dass man ihn in der Welt mit offenen Armen empfängt, dass man ihm diese Geste schuldet. Und als es nicht so ist, schwört er teuflische Rache. Denn wenn der Borderliner einmal erkennt, dass keiner ihn liebt, so wie er ist, befeuert ihn das nicht, sich zu bessern und seine liebenswerten Seiten mit andern Menschen zu tauschen, die hässlichen aber fallen zu lassen, sondern es stürzt sein ganzes Selbstbild. Also statt sich um diese Liebe verdient zu machen, wie jedermann, hasst und entwertet der Borderliner nun alles. Auch das, was er liebt. Und hört doch nicht auf, das entwertete Objekt zu begehren, zu beneiden. Ihm nachzueifern. Usw. Schreiben Sie:

Wir alle wollen geliebt werden. Sind wir nicht alle so, was meinen Sie?“ Ich lachte auf und sah wie Doktor Maus zusammen zuckte. Der arme Doktor Maus! Ob er jemand hatte, der ihn liebte? Mit einem Begehren liebte!? Pfhhhh! „Doch der Boderliner, und das geht nun halt aus seiner Störung hervor: will es mehr! Sein Hunger nach bedingungsloser Liebe, nach Bewunderung ist unstillbar! Wenn er sich jetzt nicht ununterbrochen selbst verletzt,  indem er die verrücktesten Symptome macht, stirbt er wahrscheinlich. Ich schätze die Prognosen meiner Patientin als schlecht ein. Schreiben Sie:

Obwohl der Leidensdruck sicher vorhanden ist, rechtfertigt die Situation bei weitem nicht die Zustimmung eines solchen Unterfangens. Sicher bestehen Einschränkungen, aber es sind keine Einschränkungen, die einen geistig gesunden Menschen zu einem solchen Wunsch veranlassen. Im Gegenteil, die Art, wie das Anliegen vorgebracht wird, das Insistieren und die Streitbarkeit, mit der die Patientin den Wunsch kommuniziert, muss Zweifel aufwerfen, ob es ihr wirklich um das geht, worum es hier gehen soll. Wird hier etwa unterbewusst wieder etwas Krankhaftes zum Ausdruck gebracht? Kann es sein, dass die Patientin ihr Leben gar nicht beenden will, auf jeden Fall nicht konkret? Sondern will sie nur darüber reden, ihr Leben zu beenden, wieder und wieder? Will sie es nur wieder und wieder androhen und damit unter uns für Stunk sorgen, für ein schlechtes Gewissen? Wenn dies der Fall ist, wird die Patientin damit keinen Erfolg haben, denn wir sind und bleiben rechtschaffene und fehlerlose Wohltäter! Wir durchkreuzen die billige und bequeme Idee der Patientin, sie könne so einfach und schmerzlos aus der Welt gehen. Ausgerechnet sie. Oder graut Ihnen etwa davor, solche halbwahren Märchen zu erzählen?“

Doktor Maus schlurfte benommen aus dem Raum. Sein Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf war wohl wie bei den meisten überlasteten Hausärzten riesig. Schade, ich hatte ihn nicht mal gut unterhalten.
Und jetzt muss ich wirklich mein Griess essen, jetzt gibt’s kein Entkommen mehr! Erkaltet und zu einem festen Klumpen verformt, greife ich nach dem Teller und lege ihn mir in den Schoss. Meine Hand greift nach dem Löffel, bricht damit ein kleines Klümpchen Griess ab und führt den Löffel zum Mund. Komm, schlucke! Schlucke runter, Stürmchen! Neeein, halte den Breikloss nicht so lange in deinem Mund gefangen, bevor du ihn schluckst! Gott, ja! Ich muss ihn vorher schlucken! Sonst verschlucke ich mich noch! Gott, verdammt! Wie recht dumal wieder hast…..

(2022)

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