… helle animierte Wesen, die wie Lichtblumen unter Wasser explodierten. Das mintige Blau des Himmels durchdrang den Grund mit Pfeilen von Goldstaub. Es schneite, und in diesem riesigen Sprudel der Ausgelassenheit, Ruhe und Freude, verwoben sich die Stimmwesen, unter denen sich Dolly befand, wie Ketten ineinander. Schleier durchzogen den Raum, in dem sich wiederum Raum auftat und wiederum Raum, der luzid helles, samtig weiches, lebendig wohltuendes Sein bedeute. Dolly war in diesem Sein enthalten, frei und glücklich, aber doch nicht als sie selbst, nicht als Möchtegernfilmstar und Liebesclochard. Aber sie hatte ihren Körper verlassen und war jetzt in dieses Sein eingegangen, in dem es wimmelte von dem, was einmal männliche Erotik gewesen war. Dolly-Liza-Dramedy-Taff-Baby-Girl badete in dieser Essenz. Und hätte sie gewusst, dass es da draussen noch ein Leben gab, wo die Grenze zur Haut immer ein Fehlen war, ausser es war einmal eine Liebe da; sie hätte nicht zurück gewollt. Hier, in dieser Essenz konnte sie wieder Baby sein.
Und wie bei unwirklich schönen Dingen, wachte sie dann aus dem Traum auf. Zwar lag sie auf einer Tragbahre in der Notaufnahme eines Spitalzentrums. Jemand klatschte ihr links und rechts eine Ohrfeige. „Glöckenweh!“, schrie Dolly, schlug erschrocken die Augen auf, aber sie sah nichts ausser verschwommene Grautöne. Sie verlor das Bewusstsein, spürte aber die weltliche Hektik rund um sich. Es waren etwa vier Leute im Raum, die darüber debattieren, welche Substanz man ihr spritzen sollte. Dolly wollte den Kopf heben, und etwas sagen, wurde aber gleich wieder ohnmächtig. Als das Antihistamin anfing zu wirken und die Zunge zurück schwoll, die Wülste über den Lidern kleiner wurden, öffnete Dolly die Augen und schrie:
„Ich habe solche Bauchschmerzen!“ Sie griff nach der Hand eines Pflegers und legte sie sich auf den Bauch. Dieser zog sie verlegen weg. Tatsächlich hatte das Menstruationsblut das weisse Nachthemd und das Laken innert weniger Minuten rot gefärbt. Dolly wimmerte: „Ich hab Bauchweh! Jemand muss meinen Bauch berühren!“ Und wieder griff sie wahllos nach Händen und legte diese auf ihren Unterbrauch. Doch niemand wollte ihren Bauch streicheln. Die Kolliken hatten wenigstens zur Folge, dass der Blutdruck sich allmählich wieder fing, aber der Schmerz war nur mit einer Morphinvorstufe zu stillen.
„Und auf einmal habe ich wieder gesehen!“, meinte Dolly am nächsten Tag etwas tonlos. „Und ich kam mir vor wie Maria Schell, als ihr Gary Cooper die Augenbinde abnimmt …. Im Galgenbaum … kennst du den Film?“ Ich schüttelte den Kopf. „Schau, sie hatte sich beim Überfall die Augen verletzt, ich glaube, das zu starke Sonnenlicht, das ihre geöffneten Augen während ihrer Ohnmacht flutete, hatte sie erblinden lassen. Oder es war der Überfall selbst, sie wurde blind, weil sie blind hier her gekommen war in dieses brutale Goldgräber-Kaff, blind vor Güte, meine ich ….“ Dolly griff nach meiner Hand. „Und dann hat er ihr diese Augenbinde umgehängt. Zuerst war fast ihr ganzer Kopf verbunden. Wochen vergingen, sie lag da und hörte ihn in der Hütte hantieren. Sie hörte seine Stimme, öffnete den Mund, wenn er ihr etwas Suppe gab, sie vertraute ihm voll und ganz. Und irgendwann war es so weit, da beugte er sich über sie und nahm ihr die Augenbinde ab ….. und ihre blauen Augen …. Jeanne … ihre blauen Augen ….“
Dolly fing an, zu weinen. „Dolly, was willst du mir sagen?“, fragte ich etwas ungeduldig. „Nichts!“, jaulte Dolly auf. „Ausser, dass ich ein Leben lang eine Augenbinde tragen will, wenn es nichts zu sehen gibt für sie, an dem ich mich erfreuen kann. Oder dass sie mir erst in dem Moment abgenommen wird, wenn ich dann in ein ehrliches, schönes Gesicht blicken kann. Ein Blick, der nur auf mich gerichtet ist, in dem Moment …. Aber als ich gestern die Augen aufschlug, Jeanne, merkte ich sofort, dass ich nicht sehend geworden war, dass es sich nicht lohnt, zurückzukehren, von dort, wo du mich hingeschickt hast, weil du mich nicht auch noch erträgst.
Es ist besser, Jeanne, ein Leben lang mit einer Augenbinde umherzugehen, wenn es die Liebe nicht gibt. Es ist besser, Jeanne, blind zu bleiben, als das verlorene Augenlicht durch ein Bedecken der Augen gesund zu pflegen. Ausser im Film, Jeanne! Da ist es anders!“ Ich lächelte etwas. „Da hat Elisabeth die Liebe zu Doktor Frail gewonnen, in dem Moment, in dem er ihr die Augenbinde sanft löste und sie wieder sehen konnte! Es war ein Moment absoluten Sehens. Du denkst, du hast deine Vorhänge abgenommen, weil du irgendetwas siehst, du denkst, dass du jetzt diese Barmherzigkeit erlebst? Ach, Jeanne! Nichts von all dem wird eintreten. Dies, da bei dir, ist kein Film!“
(11.6.22)