Technisch gesehen, bin ich eine Netzhaut mit hundert Millionen Sehzellen.
Diese sind noch nicht voll ausgebildet, als mein kleiner Lumpen,
von seiner Wiege aus die verschwommene Mutter anlächelt.
Wie aufregend! Ich sehe Dinge zum erstenmal: schwarzweisse Punkte, Striche und die
die drei Löcher in einem menschlichen Gesicht. Ich sehe Rot, eine Farbe!
Ich entdecke ein Lämpchen, das brennt im Dunkeln.
—-
So sieht mein Lumpen jetzt, Jahre später, dass da etwas ist, durch mich,
aber wissen, was es ist, wissen, dass es das gibt, sage nicht ich ihm.
Das sagt ihm sein Gehirn.
Ich bin ein schönes, aufregendes Organ, aber, anders als der Mund,
die Nase oder das Knie meines Lumpens, bin und bleibe ich blind,
ohne das lumpige Gehirn.
Ist das Gehirn des Lumpens sein inneres Auge?
Einmal sieht mein Lumpen durch mich einen schönen Strand,
aber mein Lumpen findet den Strand hässlich.
Nicht, weil er objektiv hässlich ist, der Strand,
aber weil mein Lumpen die Dinge nicht sieht, wie sie sind.
Ich muss es anders sagen: mein Lumpen sieht sehr genau, optisch sehr genau,
wie die Dinge sind, und gerade darum sieht er die Dinge, wie sie nicht
sind.
So sind sie tatsächlich! So, wie nur er sie sieht!
Wozu braucht es mich eigentlich? Ich bin streng, vorschnell und
voller Vorurteile. Ich mäkele rum.
Man sagt: besser blind, als taub.
Wenn ich blind bin, urteile ich dann vorsichtiger?
Ist meine Perspektive dann verschiebbar?
Sehe ich dann bis zum Horizont und weiter?
Aber ich versorge meinen Lumpen mit Licht und Dunkel!
Und beides ist sein Leben.
(27.6.22)